10 Punkte für die ersten 100 Tage: Forderungen, die bleiben

Positionierung des Bundesverbands Netzwerke von Migrant*innenorganisationen (BV NeMO e.V.) zum 21.März 2022

I.

Was uns wichtig ist und Warum

„10 Punkte für die ersten 100 Tage“ hatte der Bundesverband Netzwerke von Migrantenorganisationen mit seinen 21 lokalen Verbünden in 10 Bundesländern und über 800 Mitgliedsvereinen der neuen Bundesregierung mit auf den Weg gegeben. 
Und nun: Krieg und Flucht. Männer werden in das Kriegsgeschehen gezwungen, den Frauen bleibt die Familiensorge unter katastrophalen Bedingungen allein überantwortet. Mütter haben Angst um das Leben ihrer Kinder. Frauen machen sich mit ihren Kindern, oft auch mit den Großeltern und anderen Verwandten auf eine gefährliche Flucht, ohne zu wissen, wie die Zukunft aussehen wird. So wie diesen Krieg verurteilen wir alle brutalen und menschenverachtenden Angriffskriege und seine völkisch-nationalistischen Rechtfertigungsversuche.  Wir erinnern an die Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975, die sich zum Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt, zur Unverletzlichkeit der Grenzen, zur Achtung der territorialen Integrität aller Teilnehmerstaaten und zur friedlichen Regelung von Streitfällen bekannte. 

Wie viele andere engagieren sich unsere Verbünde und Vereine ganz selbstverständlich bei der Unterstützung der Geflüchteten. 

Dennoch bleiben wir bei einer kritischen Zwischensichtung jetzt, nach den ersten 100 Tagen. Denn: Was jetzt geschieht, stellt die Einwanderungsgesellschaft Deutschland erneut auf den Prüfstand. Im Zentrum unseres Interesses als BV NeMO steht ihre gute Gestaltung. „Mehr Fortschritt wagen.“ Mit diesem Versprechen ist die Ampel-Regierung vor nun bald 100 Tagen ins Amt gestartet. Im Mittelpunkt unserer Aktivitäten als BV NeMO steht die Gestaltung einer guten Einwanderungsgesellschaft Deutschland. 

Die Corona-Krise hat wie in einem Brennglas gezeigt, dass sich Deutschland als Einwanderungsgesellschaft im Krisen-Modus befindet, der zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheit führt – wenn man ihm nicht massiv entgegenwirkt. Wieso kommt der BV NeMO zu dieser Einschätzung? Viele Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte sind von Corona und ihren Folgen in besonders negativer Weise betroffen, weil ihre soziale Lage schon vorher problematisch war: im Gesundheitswesen, bei der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt, in Hinblick auf beengte Wohnverhältnisse und durch verstärkten Rassismus, der auch eine Begleiterscheinung der Corona-Krise ist. Der BV NeMO weiß, wovon er spricht: er ist mit seinen lokalen Verbünden nahe bei den Menschen. 

Vor diesem Hintergrund sind die „10 Punkte“ entstanden, und zwar, bevor der Koalitionsvertrag vorlag. Uns ist klar, dass nach 100 Tagen nicht alle Vorhaben auf den Weg gebracht werden können: es geht also um das, was im Koalitionsvertrag steht und erste Weichenstellungen. Zeichnet sich dieser „Fortschritt“ wirklich ab? Wird deutlich, dass die Interessen und Bedürfnisse von Menschen mit Einwanderungsgeschichte umfassend Berücksichtigung finden? Gibt es Hoffnung auf dem Weg zu einer guten Einwanderungsgesellschaft? Wir sehen hier in vielen Bereichen noch Handlungsbedarf und fordern daher:„Die Ampel jetzt auf Fortschritt stellen.“

II.

Der Koalitionsvertrag zur Einwanderungsgesellschaft: Unentschieden zwischen Aufbruch und „Weiter-so“

Der Koalitionsvertrag ist so etwas wie die Blaupause für das künftige Regierungshandeln und damit auch das Rahmenpapier für die ersten 100 Tage. In Wort und Geist zeigt sich im Vergleich zu den Vorgängerregierungen eine viel größere Aufgeschlossenheit gegenüber Fragen, die mit einer guten Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft verbunden sind. Das begrüßen wir. Programmatisch deutlich wird dies in folgendem Satz: „Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird. Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel.“  

Damit setzt die Ampel-Koalition selbst den Maßstab, an der ihre Politik zu messensein wird. Vieles im Koalitionsvertrag liest sich auch deswegen sehr fortschrittlich und frisch, weil es eben in wichtigen gesellschaftlichen Feldern jahrelang Stagnation und sogar Rückschritt gegeben hat und ein hoher Nachholbedarf besteht. Der Koalitionsvertrag der „Ampel“ unterscheidet sich von seinen Vorgängern vor allem im Feld von Anti-Rassismus, Bekämpfung des Rechtsextremismus und Anti-Diskriminierung deutlich.

Forderungen aus der Mitte der Gesellschaft wurden aufgegriffen, vieles bleibt aber vage. Unsere Forderung, zum Beispiel, – schon aus dem Sommer 2020 – nach einem Sofortprogramm, das die dringendsten anti-rassistischen Maßnahmen bündelt, wurde und wird bisher nicht aufgegriffen. Zwar ist vorgesehen, Netzwerke anti-rassistischer Beratungsstellen zu fördern, aber die Aussagen über die Trägerschaft bleiben vage, obwohl der Vorschlag, sie Migrant*innen-Organisationen zu übertragen, schon lange auf dem Tisch liegt. 

Was die Asylpolitik betrifft, bleibt der Koalitionsvertrag mehr als zwiespältig: Zwar soll eine Initiative für einen Umbau der europäischen Asylpolitik ergriffen werden; es ist aber nicht zu erkennen, dass die Grundarchitektur einer „Festung Europa“ infrage gestellt wird. Die Ukraine-Katastrophe verdeckt aktuell, dass die Lage der Geflüchteten an den EU-Außengrenzen nach wie vor menschenverachtend skandalös ist. Die Ansätze zum Bleiberecht weisen in die richtige Richtung, auch Asylsuchenden Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland zu eröffnen. Das ist ein humanitäres Gebot und nicht nur ein Erfordernis des Arbeitsmarkts. 

Einwanderungsgesellschaft ist Wirklichkeit in allen Lebensbereichen der Menschen und müsste deshalb auch in allen Politikbereichen ein wichtiger Bezug sein. Einwanderungsgesellschaft ist eine Querschnittsfrage.  Im Koalitionsvertrag aber fehlt dieser Querschnittsansatz: das ist aus unserer Sicht eine große politische Schwäche des Koalitionsvertrags.  Das hat Folgen, so z.B. gibt es keinen Blick auf sich verschärfende Ungleichheiten. Weil ein Gesamtverständnis und ein politisches Konzept der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft fehlen, bleibt auch die Bedeutung der lokal-kommunalen Ebene für die Lebensqualität der Menschen und die Rolle von Migrant*innen-Organisationen krass unterschätzt

III.

Die ersten 100 Tage: Zügige Initiativen, bleibende Enttäuschungen und Krieg und Flucht, die die Agenda bestimmen

100 Tage sind keine lange Zeit, um wirksam Weichen zu stellen. Außerdem bestimmt nun der Ukraine-Krieg und seine Folgen die Agenda. Mit Respekt ist deshalb festzustellen, dass einige auch aus unserer Sicht wichtige Weichenstellungen zügig erfolgten

Hervorzuheben ist, dass beim diesjährigen Gedenken an den Terroranschlag von Hanau erstmals eine Bundesministerin anwesend war. Das ist von wichtiger symbolischer Bedeutung, darf aber nicht darüber hinwegsehen lassen, dass die Aufklärung nun endlich und rückhaltlos passieren muss. Zügig sind die Beauftragte für Anti-Rassismus und der Beauftragte für Antiziganismus berufen worden und es wurde ein „10-Punkte-Plan“ gegen Rechtsradikalismus vorgelegt. 

Zu beobachten ist aber zugleich ein erheblicher Kontrast zwischen Plänen und Realität. Zwar sollen die vom Kabinettsausschuss der vorigen Regierung beschlossenen Maßnahmen zur Bekämpfung von Anti-Rassismus und Rechtsradikalismus nun zügig umgesetzt werden; es fehlt aber (immer noch) ein sachlich-zeitlicher Umsetzungsplan. Der „10-Punkte-Plan“ der Bundesinnenministerin gegen Rechtsradikalismus deckt dies nur teilweise ab. Die Situation an fast allen EU-Außengrenzen bleibt skandalös. Es gibt nach wie vor Berichte über Abschiebungen von Menschen, die in Deutschland seit Jahren gut angekommen sind. Integrationskurse scheinen immer noch nicht für alle wirklich geöffnet.

Das Bildungs-Aufholprogramm für Kinder und Jugendliche – von der vorherigen Regierung ins Leben gerufen – bleibt, soweit wir sehen, weit hinter seiner potenziellen Wirksamkeit zurück, zum Schaden vor allem auch von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte.  Es ist nicht erkennen, ob überhaupt an eine Bündelung von Maßnahmen zur Vermeidung verstärkter sozialer Ungleichheit gedacht wird, wie es z.B. der BV NeMO im Sinne eines „Masterplan Über Corona hinaus“ gefordert hat und fordert. Obwohl es mittlerweile „die Spatzen von den Dächern pfeifen“, dass Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte überproportional negativ betroffen sind, ist angebotene Partnerschaft mit gut vernetzten und breit aufgestellten Migrant*innen-Organisationen, die nahe bei den Menschen sind, nicht angenommen worden. Das scheint sich jetzt – angesichts der vielen Geflüchteten aus der Ukraine – zu wiederholen. Insbesondere im Bereich der Corona-Aufklärung halten wir dies für fatal.

Beunruhigung ruft bei uns hervor, dass jede Krise Rassismus aktualisiert: bei der Corona-Krise werden Menschen angegriffen, deren eine asiatische Herkunft zugeschrieben werden, bei der Ukraine-Krise Menschen, denen eine russische Herkunft zugeschrieben wird. Dies zeigt erneut, wie tief verwurzelt der Rassismus in unserer Gesellschaft ist. Wichtig ist, dass der Staat bei seinem eigenen Handeln die Zuschreibung von „Fremdheit“ vermeidet. Die Tatsache, dass an den EU-Grenzen zwischen Geflüchteten mit und ohne ukrainische Staatsbürgerschaft unterschieden wurde, ist solch ein Vorgang. Es darf keine Unterscheidung in Geflüchtete erster und zweiter Klasse geben.

Schließlich: Krieg und Flucht dominieren aktuell die Agenda. Es ist für uns – vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus den Jahren 2015 folgende - erstaunlich, was in Hinblick auf die Flucht aus der Ukraine an rechtlichen, organisatorischen und finanziellen Lösungen möglich wird. Wir begrüßen dies und erwarten, dass dies als ein positives Lehrstück beim künftigen Umgang mit Flucht in Deutschland und vor allem auch in Europa genutzt wird. 

IV.

Nach den ersten 100 Tagen: Worauf es uns nun ankommt

Soziale Problemlagen beseitigen
Unter der Überschrift „Soziale Problemlagen beseitigen“ können 5 der „10 Punkte für die ersten 100 Tage“ zusammengefasst werden:

  • Gute Bildung für alle und Gesundheit in und nach Corona-Pandemie: Jetzt besonders dringlich!  
  • Masterplan „Über Corona hinaus“
  • Gegen Fachkräftemangel: Ausbildung und Einwanderung
  • Teilhabe: Mit guter Arbeit! Vielfalt, vor allem auch im Öffentlichen Dienst

Sie sind auch durch Erfahrungen geprägt, die so zusammengefasst wurden: „Die Corona-Krise hat soziale Schieflagen offenbart. Besonders dringlichen Handlungsbedarf gibt es in den Bereichen Bildung und Gesundheit, aber auch in Hinblick auf die Wechselbeziehungen zwischen Bildung und Gesundheit. Kinder von Migrant*innen und Geflüchteten sind von Bildungsbenachteiligungen überproportional stark betroffen, insbesondere jene in Risikolagen; bereits bestehende Ungleichheiten haben sich verschärft.“

Was bleibt nach Vorlage der Koalitionsvereinbarung und den ersten 100 Tagen der „Ampel“-Koalition noch aktuell und dringend? 

In mittlerer und längerer Perspektive werden viele wichtige Vorhaben genannt, die dem Ziel „Gleiche Bildungschancen für alle“ jedenfalls näherzukommen versprechen. Allerdings muss hier wie in nahezu allen anderen Punkten ein grundsätzlicher kritischer Vorbehalt gemacht werden: Zwar wird das Ziel einer „modernen Einwanderungsgesellschaft“ postuliert, aber Einwanderungsgesellschaft wird weder analytisch und auf Gestaltung bezogen zu einer Querschnittsaufgabe aller Ressorts gemacht. Auf diese Weise besteht die Gefahr, dass spezifische Problem- und Risikolagen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Die Gestaltung einer guten Einwanderungsgesellschaft muss Querschnittsaufgabe über alle Ressorts sein (Forderung 1).
Dies gilt auch für unabweisbar dringende aktuelle Handlungsbedarfe. Das von der vorherigen Bundesregierung aufgelegte Programm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ bleibt in seiner Umsetzung unbefriedigend und ist – angesichts der Risiken von sich weiter verfestigender Bildungsbenachteiligung viel zu kurzatmig. Also: Bildung, die alle Kinder und Jugendlichen erreicht und stärkt, sofort wirksam machen und über Corona hinaus weiterführen (Forderung 2).
Dringenden Handlungsbedarf besteht auch beim Zugang von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu Ausbildung – und auch hier sind jene mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte überproportional negativ betroffen. Es ist bemerkenswert, dass Wirtschaftsminister Habeck jetzt in seinem eigenen Jahreswirtschaftsbericht entdeckt, dass 10 Prozent der Schüler*innen Jahr für Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen. Das sei die „erschreckendste Zahl“, sagt er. Auch wegen des Fachkräftemangels, auf den er abhebt, vor allem aber wegen der Lebensperspektiven der jungen Menschen selbst besteht hier ein überaus dringender Handlungsbedarf. Also: Ausbildung für junge Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte tatsächlich, sofort und wirksam durch einen Anteil …. Quote öffnen (Forderung 3).

Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei; Entwarnung wäre verfrüht. Wie ein „Brennglas“ zeigt und verstärkt sie soziale Ungleichheiten, auch beim Zugang und bei der Nutzung von Gesundheitsdiensten. Auch in Hinblick auf gesundheitliche Risiken sind Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte insbesondere dann, wenn sie sich in sozialen Problemlagen befinden, überproportional gefährdet. Deshalb bleibt aktuell: Wir fordern auch jetzt noch in der noch fortwirkenden Pandemie gezielt Unterstützung und Orientierung vor Ort zu sichern (Forderung 4). Generell ist erforderlich: eine interkulturelle Öffnung des Gesundheitswesens und niedrigschwellige und vielfaltsorientierte Zugänge zu ihm (Forderung 5). Hiervon ist bisher wenig zu erkennen. 

Damit die Maßnahmen die Menschen erreichen und um den Zusammenhalt zu sichern, sind Zugänge und Vertrauen von großer Bedeutung.
In beiden Fällen – bei nachholender Bildung ebenso wie bei Corona - Unterstützung und Aufklärung vor Ort – ist angebotene Partnerschaft mit gut vernetzten und breit aufgestellten Migrant*innen-Organisationen, die nahe bei den Menschen sind, nicht angenommen worden. Es bleibt bei unserem dringenden Vorschlag: Mit Migrant*innen-Organisationen endlich „auf Augenhöhe“ zusammenarbeiten (Forderung 6). Und es bleibt dabei: Wir fordern einen Masterplan „Über Corona hinaus“, nach wie vor (Forderung 7).

Armut bleibt ein großes Risiko in dieser Gesellschaft. Auch hiervon sind Menschen mit Einwanderungsgeschichte überdurchschnittlich stark betroffen. Die Benachteiligungen in allen Lebensbereichen tragen hierzu bei. So lag die Armutsgefährdungsquote im Jahr 2019 bei Menschen mit Migrationshintergrund bei 27,8% und bei Menschen ohne Migrationshintergrund bei 11,7%. Besonders ausgeprägt sind die Risikolagen bei Altersarmut. Häufig arbeiteten und arbeiten z.B. Migrant*innen der „ersten Generation“ in schlecht bezahlten Jobs und/oder haben Lücken in ihrem beruflichen Lebenslauf, was sich negativ bei den Renten niederschlägt. Bei der Kinderarmut – einer weiteren großen Herausforderung erklärt die „Ampel“: „Kinder und Jugendliche sollen mit gleichen Lebenschancen aufwachsen, unabhängig von ihrer Herkunft (KV, S. 98). Hierzu soll insbesondere eine Kinder-Grundsicherung eingeführt werden, deren genaue Regeln und finanziellen Ausstattungen aber noch vage sind. 

Insgesamt ist zu beobachten, ob und welche finanziellen Spielräume für dringende sozialpolitische Erfordernisse angesichts der immensen Kosten der Corona-Krise und der geplanten Erhöhungen der Militärausgaben verbleiben, welche Schwerpunkte also letztendlich gesetzt werden. 

Leiharbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Niedriglohn, Werkverträge und Minijobs prägen immer mehr die Arbeitslandschaft. Davon sind Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte überproportional betroffen. wie z.B. diejenigen, die in Branchen beschäftigt waren - wie Hotels und Gastronomie -, in denen es Corona-Lockdowns gab. Auf der anderen Seite wurde auch sichtbarer, wie hoch der Anteil der Menschen mit Einwanderungsgeschichte in den sogenannten „systemrelevanten“ Tätigkeiten, die belastend und schlecht bezahlt sind, ist. Wir stimmen mit den Gewerkschaften überein, dass in diesem Feld ein dringender und enormer Handlungsbedarf besteht. Er wird durch die dringende Beachtung von Umweltgerechtigkeit aktuell zusätzlich akzentuiert.

Die zügige Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro ist ein wichtiger Schritt, den wir ausdrücklich begrüßen, aber ohne eine Veränderung der Arbeitszeitsysteme geht es nicht. Dies braucht einen längerfristigen Umbau, müsste aber sofort eingeleitet werden. Dies ist ein weites Handlungsfeld, aber auch hierauf und auf die Lebenslagen insgesamt fehlt der differenzierte, an den sozialen Verwerfungen der Einwanderungsgesellschaft geschärfte Blick, und hier insbesondere noch einmal auf die Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb fordern wir: Gute Arbeit muss zu einer integrierten Strategie werden, die migrations- und gendersensibel ist und in einem Verständnis von Einwanderungsgesellschaft wurzelt. (Forderung 8) Hierzu gehört auch: Im Öffentlichen Dienst ist Vielfalt unabweisbar: denn der Öffentliche Dienst ist nicht nur für alle Bürgerinnen und Bürger da, sondern: was in ihm geschieht, hat reale und symbolische Aussagekraft zum Zustand unserer Gesellschaft.

Humane Asylpolitik garantieren, Rassismus bekämpfen, Diskriminierungen beenden
Unter dieser Überschrift sind aus „10 Punkte für die ersten 100 Tage“ zusammengefasst:
-    Für eine humane Asylpolitik
-    Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung!
-    Gleiche politische Rechte für alle!

Die Werte einer Einwanderungsgesellschaft zeigen sich in besonderer Weise in ihrem Umgang mit Schutzsuchenden. Von der neuen Innenministerin Nancy Faeser gehen tatsächlich ganz andere Botschaften als von ihrem Vorgänger Seehofer. Sie sagt mehr Offenheit bei der Aufnahme von Geflüchteten zu und wirbt in der EU für eine „Koalition der Willigen“ als Initiative, die europäische Migrationspolitik neu zu ordnen. Dies ist umso dringlicher, als mittlerweile immer deutlicher wird, dass die globale Klimakrise weitere Flucht hervorrufen wird. Eine neue Asylpolitik braucht deshalb als Pendant eine Politik, die sich dem Globalen Süden in ganz anderer Weise zuwendet, als dies bisher geschehen ist. Davon ist allerdings in der Koalitionsvereinbarung wenig zu erkennen.
Und nun Krieg, menschliches Element und Flucht in und aus der Ukraine. Die nun notwendige breite Öffnung für Geflüchtete aus dem Krieg in der Ukraine darf nicht vergessen machen: Die Lage der Geflüchteten an den EU-Außengrenzen ist nach wie vor menschenverachtend skandalös. Offensichtlich wird auch die Grundarchitektur eine „Festung Europa“ nicht infrage gestellt. Abschiebung wird als asylpolitisches Instrument gerechtfertigt und Berichte über unwürdige Abschiebungspraktiken gab es auch in den ersten 100 Tagen. 

Es bleibt also bei unserem Wunsch:  Schluss mit menschenverachtendem Abschiebepolitik und unwürdiger Praxis hin zu einer antirassistischen, weltoffenen und gemeinschaftlich gelebten Bleiberechtskultur (Forderung 9). Und: Es darf keine Geflüchteten 1. und 2. Klasse geben! (Forderung 10). Gerade angesichts der Flucht aus der Ukraine wiederholen wir unsere Position: Die Arbeit mit Geflüchteten ist und bleibt eine lokal-kommunale Daueraufgabe; die Beteiligung von Migrant*innen-Organisationen an ihr „auf Augenhöhe“ ist unverzichtbar (Forderung 11). Die Ansätze zum Bleiberecht gehen in die richtige Richtung, auch Asylsuchenden Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland zu eröffnen. Dies muss nun rasch und konsequent umgesetzt werden. Das ist ein humanitäres Gebot. Hinzu tritt als weiteren Grund auch der sich abzeichnende immer stärkere Fachkräftemangel.

Rassismus ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Der Koalitionsvertrag der „Ampel“ unterscheidet sich von seinen Vorgängern vor allem im Feld von Anti-Rassismus, Bekämpfung des Rechtsextremismus und Anti-Diskriminierung deutlich; viele Forderungen aus der Mitte der Gesellschaft wurden aufgegriffen. Dass erstmals eine Bundesministerin am Gedenktag zum rassistischen Mordanschlag in Hanau anwesend war, die zügige Ernennung eines Beauftragten für Antiziganismus und einer Beauftragten für Anti-Rassismus sind wichtige Signale. Aber: Die Umsetzung der vom Kabinettsausschuss der Vorgänger-Regierung beschlossenen Maßnahmen zum Anti-Rassismus und gegen Rechtsradikalismus stagniert. 

Unsere Forderung – schon aus dem Sommer 2020 – nach einem Sofortprogramm, das die dringendsten Maßnahmen bündelt, wurde und wird bisher nicht aufgegriffen. Der gerade von der Innenministerin vorgelegte „10-Punkte-Plan“ gegen Rechtsradikalismus ist dringend notwendig, erledigt aber nicht die Maßnahmen gegen den Rassismus. Zwar ist vorgesehen, Netzwerke anti-rassistischer Beratungsstellen zu fördern, aber die Aussagen über die Trägerschaft bleiben vage, obwohl der Vorschlag, sie Migrant*innen-Organisationen zu übertragen, schon lange auf dem Tisch liegt. Deshalb bleiben diese Forderungen aktuell: ein bundesweites Sofortprogramm, das die dringendsten anti-rassistischen Maßnahmen wirksam bündelt (Forderung 12), und den sofort startenden zügigen Aufbau eines Netzwerks lokaler anti-rassistischer Beratungsstellen in Trägerschaft von Migrant*innen-Organisationen (Forderung 13). 

Wir begrüßen die Erleichterung der Einbürgerung und die Option auf eine doppelte Staatsbürgerschaft. Nicht verstehen können wir, wieso in der Koalitionsvereinbarung dem Umstand, dass mehrere Millionen in Deutschland lebender Menschen kein Wahlrecht haben, keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Gleiche politische Rechte für alle stabil in Deutschland lebenden Erwachsenen (Forderung 14) bleibt deshalb ein wichtiges Anliegen.

Mit Migrant*innen-Organisationen „auf Augenhöhe“ zusammenarbeiten:

Das blieb im Koalitionsvertrag wie auch in den ersten 100 Tagen eine der großen Schwachstellen. Es bleibt undeutlich, in welcher Weise das angekündigte Partizipationsgesetz die Zusammenarbeit auf „Augenhöhe“ ernsthafter und wirksamer sichert als die leergelaufenen Integrationsgipfel. 

Die Perspektive auf den Staat dominiert. Die Arbeit der Migrant*innen-Organisationen als soziale Unterstützer und „Integrationsscouts“ werden gerne angenommen, ihre Kompetenzen für die Gestaltung einer guten Einwanderungsgesellschaft aber unterschätzt. Das wurde erneut bei der Corona-Krise im Feld des Aufholprogramms Bildung und der zielgruppenorientierten Corona-Aufklärung deutlich und scheint sich jetzt angesichts der Flucht aus dem Ukraine-Krieg zu wiederholen. Es macht also wenig Sinn, auf ein Partizipationsgesetz zu warten. Die Zusammenarbeit muss sofort auf eine neue Basis gestellt werden. Deshalb bleibt es bei der Forderung: Ein Pakt für Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft jetzt (Forderung 15).

 

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