Was nun? Neue EU-Migrationspolitik?

Ende September 2020 stellte die EU-Kommission ihr „neues Migrations- und Asylpaket“ vor – und sprach von einem Neuanfang in der EU-Migrationspolitik.

Mit dem neu vorgestellten Paket sei die Europäische Union in der Lage, die Migration künftig zu steuern, hieß es in einer Pressemitteilung vom 23. September 2020 – fortan solle es keine unüberlegten Ad-hoc-Lösungen mehr geben. Stattdessen solle ein berechenbares und zuverlässiges Migrationsmanagementsystem installiert werden.

Das neue Migrationskonzept verspreche die Wiederherstellung eines Gleichgewichts zwischen Verantwortung und Solidarität unter den Mitgliedstaaten, das durch eine gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten gekennzeichnet sei.

Obwohl das Paket nach außen vielversprechend und humanitär wirkt, ist es in Wirklichkeit ein grausames Kontrollinstrument. Warum? Weil mit ihm Grund- und Freiheitsrechte verletzt werden. Damit verbinde sich eine Maschinerie, die nur schwer zu durchschauen sei, so die drei Gäst*innen der Veranstaltung Haftlager auf den griechischen Inseln: Eine neue „Ära” in der EU-Migrationspolitik? Es handelte sich um eine Veranstaltung von borderline-europe, Europe for Citizens und der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 05. Juli 2022 in Berlin.

Die anwesenden Gäste: Daphne Tolis, freie Journalistin und Dokumentarfilmerin aus Athen; Athina Ntvasili, Anwältin bei Equal Rights Beyond Borders auf Kos – und Karl Kopp, Leiter der Europaabteilung PRO ASYL. Sie alle berichteten von den menschenunwürdigen Zuständen vor Ort.

Das elementare Steuerungsinstrument der „gesamteuropäischen Migrationslösung“ sind sogenannte „Closed Controlled Access Centres“. 276 Millionen Euro investiert die EU bereits in den Bau von gefängnisartigen Lagern, die seit Ende 2021 auf den griechischen Inseln Leros, Kos und Samos errichtet wurden. Zur Eröffnung des ersten Lagers sprach der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi wortwörtlich von einer neuen Ära in der Migrationspolitik.

Die Außendarstellung der Lager verspricht eine vollständige Deckung der Bedarfe der Bewohner*innen. Im Detail solle dies durch gute Infrastruktur, Sport- und Freizeitflächen, eine gute medizinische Versorgung oder psychosoziale sowie juristische Dienstleistungen gewährleistet werden. Doch ein doppelter NATO-Sicherheitszaun sorgt dafür, dass sich die Menschen in den Lagern wie Insassen in einem Gefängnis fühlen. Dieses Gefühl verstärkt sich durch Kontrollsysteme am Eingang: in Form von Drehkreuzen, magnetischen Toren, Röntgenstrahlen, einem Zwei-Faktor-Zugangskontrollsystem (Identität und Fingerabdruck) sowie durch ein geschlossenes Überwachungssystem (CCTV) – ausgestattet mit „intelligenter” Software. 
Betroffene berichten von extremen permanenten Kontrollen und Erniedrigungen der Polizei sowie der Wachleute in den Camps. Ihren Aussagen zufolge gebe es keinerlei Privatsphäre. Selbst die Sanitäranlagen würden ohne Vorankündigung kontrolliert werden. Außerdem komme es zu Problemen bei der Wasserversorgung. Bei dringenden Arztbesuchen oder Notfällen würden nur die NGO vor Ort die Menschen unterstützen. Aufgrund der unzulänglichen gesundheitlichen Versorgung kam es demnach bereits zu mehreren Todesfällen.

Zeug*innen und Geflüchtete sehen den Bau als Flüchtlingsgefängnis Europas. Es dauere zwei Stunden zu Fuß, um zum nächstgelegenen Ort mit Einkaufsmöglichkeiten zu gelangen. Darüber hinaus gäbe es wohl keine wirkliche Busanbindung, wodurch die Menschen im Lager komplett von der Außenwelt abgeschottet seien. Eine der Ursachen sei vermutlich auch die vermeintliche Wahrung der touristischen Attraktivität.

Auf den Inseln seien keine NGO zugegen, weshalb sich die Situation für die Geflüchteten nicht verbessern könne. Die NGO würden sehr wertvolle und humanitäre Arbeit leisten – doch der Eintritt werde ihnen oft durch gewisse Maßnahmen verwehrt. Bedingt durch einen komplexen, teuren und langwierigen Prozess bei der Registrierung der NGO seitens der griechischen Regierung kommen die Hilfskräftige nur schwer in die Lager. Athina Ntvasili zufolge, Anwältin bei Equal Rights Beyond Borders auf Kos, werden durch das hermetische Kontrollsystem in den Lagern alle Grund- und Freiheitsrechte der Menschen verletzt.

Wir als Bundesverband Netzwerke Migrant*innenorganisationen fordern die Beendigung der inhumanen Zustände in den Geflüchtetenlagern auf den griechischen Inseln. Die Camps müssen sofort evakuiert und eine würdevolle Unterbringung der Menschen eingeleitet werden.