„Teilhabe passiert nicht von selbst – sie muss erkämpft und gestaltet werden.“

Im Interview blickt Ehrenvorsitzender Ümit Koşan auf zehn Jahre NeMO zurück und erklärt, warum migrantische Verbünde heute unverzichtbar für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt sind.

Ehrenvorsitzender Ümit Koşan hat den Bundesverband gemeinsam mit einigen anderen engagierten Menschen vor 10 Jahren gegründet. Foto: Alex Serdyuk.

NeMO-Gründungsversammlung 2015 in Dortmund - hier wurde der Bundesverband mit ursprünglich sechs Mitgliedern offiziell gegründet. Foto: BV NeMO

Wie kam damals die Idee zum Bundesverband NeMO zustande?

Die Idee entstand ungefähr 2010. Der Ausgangspunkt dafür war die Verbund-Idee, die damals mit der Gründung des VMDO entstanden ist, da der VMDO (Verbund der sozial-kulturellen Migrantenvereine in Dortmund e.V.) der erste war, der sich als Verbund von Migrantenorganisationen genau mit der Zielsetzung zur Gestaltung der Stadtgesellschaft entwickelte, also ohne reinen Kulturansatz. Damit wurde ein entscheidender Grundstein für unsere heutige Verbundstrategie gelegt.

Für den VMDO als neuen kommunalen Typ von Migrant*innenorganisation gab es gute Gründe, so einen innovativen Ansatz zu unterstützen, von den kommunalen bis hin zu landespolitischen Strukturen. Wir gründeten zeitnah einen Beirat, in dem damals einzigartig der Oberbürgermeister und zwei Dezernentinnen, Vertreter unterschiedlicher Strukturen der Zivilgesellschaft, als auch Dr. Wilfried Kruse (er ist immer noch als Berater für den Bundesverband aktiv) saßen. So haben wir uns lokal gut etablieren können. Das war ein großer Durchbruch.

Nachdem diesen Strukturen aufgebaut waren und einige Projekte bewilligt wurden, stellte ich mir die Frage: „Sind wir die Einzigen in Deutschland, oder gibt es ähnliche Strukturen?“ Ich begann zu recherchieren und fand in verschiedenen Städten einige vergleichbare Strukturen und Initiativen. Durch die Recherche stieß ich zunächst auf das Forum der Kulturen in Stuttgart, das MiSO-Netzwerk in Hannover, das Netzwerk in Halle, das interkulturelle Zentrum in Bielefeld, den Migrationsrat in Berlin, sowie das Haus der Kulturen in Lübeck.

Mein erster Schritt war, diese Organisationen zu kontaktieren und einen Austausch zu initiieren. Zunächst begann dieser Dialog mit Hannover und Bielefeld.

Wie hat sich dieser Austausch dann weiterentwickelt?

Es brachte uns näher an die Überlegung heran, ob wir aus der Kommunikation mehr machen, also systematisch voneinander lernen könnten. In der Zeit war es weder denkbar noch vorstellbar, gemeinsam einen Bundesverband zu gründen. Der entscheidende Moment kam Anfang 2012, als das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) eine erste Ausschreibung für die „Strukturförderung“ veröffentlichte – ein Programm zur Förderung bundesweit tätigender Bundesverbände von Migrantenorganisationen. Diese mussten in mindestens fünf Bundesländern vertreten sowie als Bundesverband eingetragen sein. Allein diese zwei formalen Gründe schlossen uns aus, da wir nicht einmal eine verbindliche Initiative waren.

In weiteren Sitzungen mit unserem „Bündnis“ einigten wir uns daran zu arbeiten, die formellen Ausschreibungsvoraussetzungen zu erfüllen. Zwar hieß es: „Das ist eine gute Idee, aber nicht realisierbar.“ Trotzdem war mir/uns klar: Unsere Verbund-Idee war auf der Bundesebene bisher nicht anzutreffen. Also haben wir über die federführende Rolle des VMDO gemeinsam mit fünf Strukturen (MISO Hannover, MSO-Initiative Halle, Forum der Kulturen Stuttgart, Haus der Kulturen Lübeck, Migrationsrat Berlin) den ersten Antrag eingereicht. Gemeinsam entwarfen wir eine erste Satzung als „Pro-Forma-Version“, damit wir überzeugend wären. In dem eingereichten Antrag hießen wir „BAG-NEMO“

Zu unserer Überraschung reagierte das BAMF unerwartet positiv. Die Idee sei interessant auszuprobieren und auch die sich beteiligten Strukturen waren überzeugend. Mitte 2012 erhielten wir schließlich eine Zusage für unser Strukturförderungsprojekt mit Start ab Januar 2013 für drei Jahre. Damit sind wir also direkt von der ersten Förderphase an bis jetzt dabei.

Die Mittel wurden auf fünf Träger verteilt, sodass alle fünf mitgewirkten Strukturen ihre Vertreter*innen für die Arbeit freistellen konnten. Daher war unser erstes gemeinsames Strategiepapier in Stuttgart ein Durchbruch und profilierte uns als ein „neuer Typ von Migrantenorganisationen“, der für unsere Einwanderungsgesellschaft unverzichtbar ist.

Nach vielen weiteren Treffen in verschiedenen Städten wurde der Bundesverband schließlich am 15. September 2015 offiziell im Dortmunder Rathaus gegründet.

Am Ende waren wir sechs Gründungsvereine, denn der Migrationsrat-Berlin e.V. stieg aus. Dafür kamen moveGLOBAL e.V. aus Berlin und das Haus der Kulturen Braunschweig e.V. dazu. So entstand NeMO – nach vielen Reisen, zahllosen Gesprächen und großem persönlichen Einsatz von vielen Menschen aus den Vorständen der mitwirkenden Verbünde.

Ging es anfangs eher darum, ob es einen Bundesverband geben sollte – oder gleich darum, wie er aussehen müsste?

Am Anfang ging es tatsächlich um ganz grundlegende Fragen – angefangen beim Namen. Es gab viele, teilweise auch skurrile Vorschläge: „Bundesarbeitsgemeinschaft für interkulturelle Migrantenorganisationen -BAG-INEMO“ usw.

Die Entstehungsrahmen der beteiligten Organisationen/Initiativen waren sehr unterschiedlich. Fast alle Organisationen waren lokal stark verankert und bekannt für ihre sozio-kulturellen Beiträge, natürlich geprägt von den jeweiligen Perspektiven der beteiligten Menschen mit Migrationsgeschichte in den Vereinen.
Unser Verbundansatz sollte diesem Image entgegenwirken und uns mehr mit unseren gesellschaftlichen und politischen Zielen in den Vordergrund rücken. Nach intensiven Diskussionen konnten wir uns schließlich einigen – und am Ende hat sich gezeigt: Es war sehr wertvoll und innovativ, diesen Ansatz zu entwickeln und zu verfolgen.

Wir profilierten uns als „neuen Typ von Migrantenorganisationen“, der für die Einwanderungsgesellschaft unverzichtbar ist. Damit unterschieden wir uns deutlich von klassischen ethnischen, kulturellen oder politischen Vereinen und gewannen eine nachhaltige und eigenständige Rolle in der Gestaltung des lokalen Zusammenlebens.

Heute, zehn Jahre später, ist NeMO stark gewachsen. Wie hat sich aus deiner Sicht die Rolle der Migrant*innenorganisationen in dieser Zeit verändert?

Wir kennen die migrantischen Organisationen sehr genau – sowohl in ihrer lokalen Arbeit als auch auf Landes- und Bundesebene. Mit unserem lokalen Verbundansatz haben wir die Rolle und Verantwortung von Migrant*innenorganisationen grundlegend neu definiert. Wir wollten nicht länger das „Migrationsklischee“ bedienen, also in Opferrollen verharren oder Bittsteller-Muster reproduzieren. Stattdessen haben wir bewusst sowohl die Bezeichnung der Organisationen als auch die Verantwortung für die Stadtgesellschaft auf den Kopf gestellt und in der jetzigen Einwanderungsgesellschaft sinnvollerweise neu definiert: Wir übernehmen Verantwortung für das Zusammenleben in der Stadtgesellschaft – für alle Menschen vor Ort.

Mit Projekten wie samo.fa (Stärkung der Aktiven aus Migrantenorganisationen in der Flüchtlingsarbeit) haben wir gezeigt, wie migrantische Verbünde in der Lage sind, kommunale Aufnahmeprozesse für Geflüchtete mitzusteuern: diversitätsorientiert, verantwortungsbewusst und lösungsorientiert. Auch in weiteren Projekten haben wir bundesweit Praxisbeispiele und Strategien entwickelt, neue Verbünde aufgebaut und deren Entwicklungsprozesse begleitet. Unsere Präsenz in wichtigen bundespolitischen Strukturen bestätigt: sprach-, kultur- und herkunftsübergreifende Strukturen wie die unseren sind unverzichtbar.

Natürlich stehen wir vor großen Herausforderungen gegenüber systemisch bedingten Faktoren wie z.B. soziale Ungleichheit, Rassismus, Diskriminierung, Bildungsungerechtigkeit, Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt oder in der Seniorenarbeit. Genau hier liegt aber auch die Stärke von NeMO: Probleme sichtbar machen, den Finger in die Wunde legen, gemeinsam Lösungen entwickeln und umsetzen.

Und wie siehst du die politische Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte heute?

Das politische Klima in Deutschland ist in den letzten Jahren deutlich angespannter geworden. Rechtspopulistische Kräfte gewinnen an Einfluss, Rassismus und Diskriminierung sind sichtbarer und spalten unsere Gesellschaft. Diese Entwicklung mag beängstigend sein, aber sie eröffnet für uns auch neue Aufgaben und Chancen: Wir müssen die gesellschaftlichen Dynamiken verstehen und aktiv mitgestalten – auch indem wir neue Bündnisse eingehen. Darin liegen wichtige Potenziale für uns und für die Weiterentwicklung unserer Einwanderungsgesellschaft.

Gleichzeitig erleben wir auf vielen Ebenen noch immer ein massives Defizit an Teilhabe. Viele Menschen mit Migrationsgeschichte sind in gesellschaftlichen Prozessen unterrepräsentiert – nicht, weil es an Interesse mangelt, sondern weil das System durch verschiedene Mechanismen eine gewisse Passivität verstärkt. So bleiben Menschen mit Migrationsgeschichte häufig Zuschauer statt aktive Problemlöser und Gesellschaftsgestalter.

Genau hier soll die Arbeit unseres Bundesverbandes und unserer Verbünde ansetzen: Wir müssen noch kreativer und aktiver werden, um diese Prozesse zu durchbrechen, denn wir leben in einer Demokratie und das politische System bietet uns verschiedene Möglichkeiten, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Diese Verantwortung müssen wir wahrnehmen.

Frage zum Schluss: Was bedeutet dir persönlich die Gründung und Entwicklung von NeMO?

Es war ein langer, intensiver Weg – mit vielen Reisen, Sitzungen, Diskussionen und unzähligen Stunden Arbeit. Ich habe viel Energie investiert, aber es hat sich gelohnt. Für mich ist NeMO ein Beweis dafür, dass diversitätsorientierte Organisationen nicht nur lokal wirken, sondern gemeinsam bundesweit etwas bewegen können. Es ist auch eine Bestätigung, dass wir als Teil der Einwanderungsgesellschaft Verantwortung tragen – und diese Verantwortung auch gerne annehmen. NeMO hat viel erreicht. Aber die eigentliche Aufgabe liegt noch vor uns: die Strukturen nachhaltig zu sichern, politisch wirksamer zu werden und migrantische Wohlfahrtspflege aufzubauen. Wenn uns das gelingt, dann haben wir nicht nur für Organisationen von Migrant*innen, sondern für die gesamte demokratische Gesellschaft sehr Wertvolles geschaffen.

Wer noch mehr über die Entwicklung des Bundesverbands und weitere Ideen für die Zukunft lesen möchte, kann hier auch die Langfassung des Interviews downloaden.