Positionierung zu Migrationsräten

Ernst nehmen und mit ihnen konstruktiv-kritisch und pro-aktiv umgehen!

  • Auf der kommunalen Ebene kann grundsätzlich unterschieden werden zwischen gewählten Partizipationsgremien, die unterschiedliche Bezeichnungen haben, wie z.B. Migrationsrat oder Integrationsrat, und benannten Expert*innengremien. die oft als Integrationsbeiräte benannt sind. In den meisten Bundesländern haben diese jeweils gesetzliche Grundlagen, entweder in Landesgesetzen und/oder in Gemeinde-ordnungen. Beide Formen haben unterschiedliche Ausprägungen, z.B. auch in Hinblick auf das aktive und passive Wahlrecht zu ihnen und auch in Hinblick auf die ihnen zugedachten Gestaltungsspielräume. Entstanden sind sie in den 70er Jahren als ein Instrument, die Interessen der ausländischen Wohnbevölkerung beratend in die kommunalen Entscheidungsprozesse einzuspeisen. Im Sinne einer demokratischen Kultur sind gewählte Integrationsräte benannten Beiräten vorzuziehen.
     
  • Diese Räte und Beiräte sind auch deshalb entstanden und haben sich ausgebreitet, weil hier lebenden Menschen aus Drittländern außerhalb der EU und ohne deutschen Pass nach wie vor das kommunale Wahlrecht - wie das Wahlrecht insgesamt- verweigert wird. Räte und Beiräte ersetzen in keiner Weise das allgemeine Wahlrecht. Räte und Beiräte haben keine Ersatzfunktion für das vorenthaltene Wahlrecht, sondern sie haben – dem Grunde nach - eine eigenständige Aufgabe. Hat sie zudem eine gesetzliche und/oder gemeinderechtliche Grundlage, darf sie nicht ignoriert, sondern muss gestaltet werden.
     
  • Grundsätzlich gilt: Die Räte und Beiräte können ihre Aufgabe umso besser erfüllen, je stärker sie in den verschiedenen Communities der Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte verankert sind. Wahlen sind und bleiben hierfür der angemessene demokratische Weg. Eine geringe oder sehr selektive Wahlbeteiligung stellt die Legitimation der Räte nicht infrage, verweist aber auf starke Defizite der kommunalen Teilhabekultur.
     
  • So wenig, wie die Räte und Beiräte Ersatz für das vorenthaltene Wahlrecht sind, ist ihre Aufgabe dann erledigt, wenn das kommunale Wahlrecht für alle durchgesetzt sein wird. Denn das Einwanderungsland Deutschland weist starke soziale Ungleichheiten und einen wachsenden Rassismus auf, von denen Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte besonders stark betroffen sind. Die Aufgabe, die Interessen der Wohnbevölkerung mit Einwanderungsgeschichte beratend in die kommunale Willensbildung einzuspeisen, bleibt also nicht nur vorhanden, sondern sie wird immer wichtiger. 
     
  • Die Aufklärungs- und Einflusschancen, die die Räte haben, ergeben sich zu ihrer institutionellen und z.T. auch personellen Nähe zu den Stadt-. Gemeinde- oder Kreisparlamenten. Entscheidend ist, dass dieses Verhältnis gestaltet ist/wird. Personelle Bezugspunkte können hierbei auch jene gewählten Ratsmitglieder aller demokratischen Parteien sein, die aus Familien mit Einwanderungs-geschichte kommen oder selbst eingewandert sind. Der politische Bezug gilt aber immer den gesamten kommunalen Gremien. 
     
  • Ein aktives Verhältnis setzt voraus, dass die Räte und Beiräte das Recht zu Stellungnahmen und Anträgen zu allen Fragen, die sie für wichtig halten, haben oder durchsetzen. Dies schließt eine umfassende und frühzeitige Information und ein Rederecht ein. Die Räte müssen sich einer – immer wieder versuchten - Begrenzung ihrer beratenden Zuständigkeit auf vermeintliche typische Angelegenheiten von Migrant*innen verweigern, denn: Alle Lebens- und damit auch Politikbereiche sind mittlerweile einwanderungsgesellschaftlich durchprägt. Es gibt kein Feld und kein Thema, das nicht auch die Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte betrifft. Wie wichtig und prioritär ein Thema ist, müssen die Räte und Beiräte für sich klären. Kurz: Die Räte müssen an den kommunalpolitischen Belangen verbindlich beteiligt sein.
     
  • Bei vielen Kommunen gibt es mittlerweile sogenannte Integrationsbeauftragte und/oder entsprechende Fachabteilungen, z.T. auch auf der Basis von Landesgesetzen und mit entsprechender finanzieller Förderung. Das ist insgesamt eine positive Entwicklung, und zwar vor allem dann, wenn diese im Sinne eines „Fokus Migration“ ressortübergreifend tätig sind. Es ist damit eine Art „hauptamtlicher Apparat“ entstanden, während die Räte ehrenamtlich tätig sind. Hieraus erwächst nicht selten die Gefahr einer faktischen Bevormundung oder einer Art „patriarchalischen Verhaltens“ im Sinne von „wir machen das schon“ oder „wir haben den besseren Durchblick“. Die Zusammenarbeit zwischen den hauptamtlichen zuständigen Personen und Abteilungen der Kommune und den Räten und Beiräten muss also sorgfältig geklärt und immer wieder überprüft werden. 
     
  • Mit der weiteren Entwicklung der Einwanderungsgesellschaft wachsen auch die Aufgaben der Räte und Beiräte und sie werden komplexer. Dem steht nicht nur die Ehrenamtlichkeit ihrer Mitglieder erschwerend gegenüber, sondern auch die häufig mangelnde Ausstattung der Räte mit Räumen, technischer und kommunikativer Infrastruktur und fachlich einschlägigem unterstützenden Personal. Wenn die Räte als ein „Arm“ der Interessenvertretung der migrantischen Wohnbevölkerung wirksam sein sollen, muss deren Arbeitsfähigkeit sichergestellt sein. 
     
  • Oft ist eine Art Selbstbeschränkung der Räte und Beiräte zu beobachten, und dies vor allem in dreierlei Hinsicht: erstens durch eine Konzentration auf angebliche typische Angelegenheiten von Migrant*innen und  auf – durchaus wichtige – Weltkultur-Folklore, zweitens durch die eine eher bittstellende Haltung und die Angst vor Konflikten, wo es doch um legitime Interessen und Rechte geht, und drittens dadurch, dass sie oftmals  Routinen der Abschottung von der städtischen Öffentlichkeit teilen, wie viele kommunale Gremien ihnen vorleben. Alle drei Selbstbeschränkungen sind unproduktiv und führen dazu, dass ihre öffentliche Wahrnehmung und vor allem ihre Reputation in den migrantischen Communities leidet – und damit auch das Interesse an ihnen, einschließlich Bereitschaft zu wählen und gewählt zu werden. Öffentlichkeit muss also aktiv hergestellt werden; ein eigenes Veröffentlichungsrecht ist hierfür eine der Voraussetzungen. Die Rückkopplung in die migrantischen Communities ist von großer Bedeutung, und zwar in alle und nicht nur in jene, die gerade in den Räten gut vertreten sind. 
     
  • Die demokratischen Migrant*innen-Organisationen – und vor allem jene, die als Verbünde viele Vereine in sich vereinen – müssen als pro-aktive Förderer einer offensiven Haltung und Arbeit der Räte und Beiräte aktiv werden. Ihre Aktivitäten dürfen sich nicht auf Wahlkampf und Wahl beschränken, um danach die Räte und Beiräte aus den Augen zu verlieren. Vielmehr geht es um eine konstruktiv-kritische Begleitung der Arbeit der Räte und Beiräte, durchaus auch im Sinne von Forderungen und Impulsen. Insbesondere in der Beziehung zwischen den Räten und Beiräten und den migrantischen Communties ist die kommunikative, aktivierende und konstruktiv-kritische Rolle der demokratischen MO’s wichtig; damit adressieren sie zugleich die Kommune und deren Verpflichtung zur Daseinsvorsorge für alle. Für die Räte ist es ihrerseits mehr als sinnvoll, demokratische Migrant*innen-Organisationen in ihre Arbeit aktiv einzubeziehen. 
     
  • Der Bundesverband NeMO setzt sich mit Forderungen und in der Praxis für eine Verbesserung der Lebensbedingungen „vor Ort“ ein. Die Wirklichkeit vieler Migrationsräte - oder wie sie jeweils in den Ländern genannt werden – ist beklagenswert. Aber auch in einem guten und pro-aktiven Zustand sind sie nicht der Königsweg für Artikulation von Interessen von Menschen mit Einwanderungsgeschichte und ihre Durchsetzung vor Ort, sondern nur einer der Hebel, der aber durchaus wichtig ist. Der BV NeMO ist dafür, alle verfügbaren und neu zu entwickelten „Hebel“ zu nutzen, um gleiche Teilhabe durchzusetzen. Hieraus folgt eine pro-aktive Haltung des BV NeMO und seiner lokalen Verbünde auch zu den Räten, und zwar sowohl im Sinne von Wahlbeteiligung, als vor allen Dingen auch im Sinne einer kontinuierlichen kritisch-konstruktiven und treibenden Begleitung der Räte.

 
Beschlossen auf der Mitgliederversammlung des BV NeMO am 16.Juni 2023 in Saarbrücken

Die Positionierung herunterladen