Hanau: Jetzt handeln! Eine Stellungnahme aus dem NeMO-Projekt wir sind viele – gegen rassismus und diskriminierung

Das rassistische Massaker in Hanau nähert sich seinem ersten Jahrestag. Neun junge Menschen verloren dabei ihr Leben. Der einzige Grund, warum sie getötet wurden: Sie wurden als "Fremde" wahrgenommen, Migrant*innen mit dunkler Hautfarbe, fremder Kultur, die aus der deutschen Gesellschaft „bereinigt” werden sollten. Der Täter sah die Gesellschaft durch ihre Fremdheit bedroht und verübte ein Blutbad des Terrors.

Gökhan Gültekin arbeitete tagsüber als Fliesenleger. Abends jobbte er zusätzlich in einem Café-Kiosk, um Geld für seine bevorstehende Hochzeit zu sparen. In naher Zukunft wollte er eine Familie gründen.

Mercedes Kierpacz, eine alleinerziehende Mutter, schuftete in der Arana-Bar. Sie brachte ihren Kindern Brot, Liebe und Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit nach Hause. 

Sedat Gürbüz betrieb eine Shisha-Bar, in der er dafür sorgte, dass die Kunden, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, eine gesellige Atmosphäre hatten, in der sie fröhlich plaudern und sich nach einem fordernden Tag regenerieren konnten.

Vili Viorel Păun, der zur Behandlung seiner kranken Mutter nach Deutschland kam, arbeitete für eine Kurierfirma. Er verfolgte den Täter, um ihn zu stellen und das Massaker zu verhindern.

Jedes der Opfer in Hanau bildete mit seinem Dasein, einer vielfältigen Existenz und Lebensweise die Grundlage des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Reichtums dieser Gesellschaft. Sie alle führten ein „normales überlebensnotwendiges Leben” – obwohl diese Normalität am Rande des ihnen gegebenen Prekariats angesiedelt war.

Das Massaker in Hanau hinterlässt viele traumatisierte und trauernde Familien und Überlebende. Alle von ihnen wachen jeden Tag zum Neuen mit einem unwiederbringlichen Verlust auf. Sie verspüren eine Leere, die von einem nicht zu heilenden Schmerz erfüllt ist. Die Schreie der Familien spiegeln sich in den Stimmen der Familien wider, die ihre Angehörigen bei den rassistischen Angriffen des NSU und anderen zahlreichen Anschlägen verloren haben. Diese Schreie, dieses Streben nach Gerechtigkeit, sind sowohl einmalig als auch die Fortsetzung der vorangegangenen. So wie jedes Massaker sowohl einmalig ist – und zugleich eine Fortsetzung der vorangegangenen Massaker darstellt.

Sollten diese elementaren Wünsche der trauernden Familien nach Schutz, Anerkennung, Würde, Zugehörigkeit und Gleichheit nicht für uns alle gelten? Wann werden diese Morde vollständig aufgeklärt? Wann werden die Politiker*innen auf Forderungen hören? Wann werden sie politische und kulturelle Maßnahmen ergreifen, um den friedlichen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, anstatt rassistische Ressentiments zu verbreiten? Wann wird das Gefühl der Verlegenheit hinter allen offiziellen Gedenkveranstaltungen zu ernsthaften Schritten in der politischen Welt führen?

Erinnern, wie Familien sagen, heißt Kämpfen und Verändern. Natürlich ist dieser Kampf nicht nur der Kampf der Familien. So wie die Verantwortung für diese Todesfälle die Verantwortung dieser Gesellschaft ist, so ist es auch die Pflicht dieser Gesellschaft, die Verstorbenen nicht zu vergessen – und darüber hinaus alles Notwendige dafür zu tun, damit niemand mehr einem rassistischen Angriff, einer Anfeindung, ja irgendeiner Art von Ausgrenzung ausgesetzt ist.

Erinnern heißt Rekonstruktion. Wir müssen eine demokratische Gesellschaft der Vielen aufbauen. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der das Begehren nicht nach Ausgrenzung, nach Gewalt, nach Ressentiments überwiegt – sondern das Begehren nach Solidarität, Respekt und Gegenseitigkeit.

Wir gedenken all der Leben, die wir verloren haben – in der Hoffnung, dass Hanau ein wichtiger Prüfstein für die Gesellschaft sein wird, um von Rassismus bereinigt zu sein, anstatt von „Fremden.”

Dr. Çagri Kahveci, ehemals Mit-Projektleitung des NeMO-Projekts wir sind viele – gegen rassismus und diskriminierung