Es geschah vor einem Jahr: Neun Hanauer Bürger*innen mussten wegen ihrer Herkunft sterben

Der Bundesverband NeMO erinnert an das rassistische Massaker in Hanau – und fordert Konsequenzen. Welche Lehren hat die Politik aus dem Massaker gezogen?

Am 19.02.2020 erschoss ein Hanauer Bürger neun Menschen bei einem rassistisch motivierten Anschlag. Die Opfer: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Alle von ihnen sind*innen mit Migrationsbiographie. Aus Sicht des rechtsextremistisch motivierten Täters hatten sie eine einzige „Schuld“: Sie entsprachen nicht seiner Vorstellung von deutschen Staatsbürger*innen.

Wir erinnern an die Serie der NSU-Morde der Jahre 2000 bis 2006, bei der Menschen willkürlich starben. Polizei und Staatsschutz ermittelten damals zuerst gegen die Angehörigen der Opfer, während im Kreis und Umfeld der rechtsextremistischen Täter das Videomaterial der Morde zur Belustigung benutzt wurde. 

Wir erinnern zudem an die durch Rassismus motivierte Hetzjagd auf Migrant*innen im Jahr 2018 auf einer Straße in Chemnitz, die eine angebliche Messerattacke zum Anlass nahm.

Wir erinnern an den Mordanschlag am 1. Juni 2019 am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke, weil er sich für die Aufnahme von asylsuchenden Menschen ausgesprochen hatte.

Wir erinnern an den Anschlag auf die Synagoge von Halle an der Saale am 9. Oktober 2019, wo Menschen aufgrund ihres Glaubens ermordet werden sollten. Zwei ahnungslose Zufallsopfer haben dabei das Leben verloren. Weitere Anschläge konnten gerade noch vereitelt werden – zeugen aber davon, dass Rechtsextremismus zu mehr als einer rassistische Sprache führt. 

Spätestens seit dem Anschlag vom 19.02.2020 in Hanau dürfte dem letzten Skeptiker klar geworden sein: Nach dieser Anreihung hassmotivierter Anschläge kann nicht mehr glaubhaft von Einzelfällen die Rede sein. Das wirft unweigerlich die Frage nach einem Zwischenfazit auf: Welche Lehren hat die Politik auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene daraus gezogen?

An diesem Jahrestag sind unsere Gedanken bei den Hinterbliebenen der Anschläge. Der Bundesverband NeMO verurteilt erneut jede Form von Rassismus und Antisemitismus.

Wir fordern daher alle politischen Parteien auf, sich klar und noch eindeutiger von Rechtsextremismus zu distanzieren. Wir fordern ferner, in der Gesetzgebung alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten zu nutzen, um die Urheber*innen von Hass und Gewalt als Mittel der Politik zur Rechenschaft zu ziehen. Damit sollen unter anderem die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, um das Aufkeimen von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus strafrechtlich gezielt zu bekämpfen.

Wir fordern die Justizbehörden auf, Förder*innen rechtsextremistischen Gedankenguts zeitnah mit den verbindlichen Vorgaben des Grundgesetzes zu konfrontieren. An ihnen, den Behörden, obliegt es, notwendige Konsequenzen zu ziehen. Nur so kann die Rechtsprechung ihre gesellschaftliche Funktion wirksam erfüllen – und eventuelle Nachahmer*innen abhalten.

Wir fordern die Landtage, den Bundestag und den Bundesrat auf, die gesetzlichen Rahmen zu schaffen, um die Prävention und die Bekämpfung jeder Form von Abgrenzung und Diskriminierung als zivilgesellschaftliche Aufgaben festzuschreiben.

Wir fordern die Landtage weiterhin auf, eine Landesantidiskriminierungsgesetzgebung unter Förderung und Einbeziehung von Migrant*innenverbänden als Antirassismusstellen in die Wege zu leiten. Sie mögen entsprechende Beschlüsse verabschieden – und damit rechtliche Vorgaben für Prävention und weitere Maßnahmen bei Behörden und Institutionen festzulegen.
 
Wir fordern den Bundestag im Speziellen auf, eine Erinnerungskultur gegen Fremdenfeindlichkeit in die Wege zu leiten. Wirksamere Maßnahmen für eine Willkommenskultur möge der Bundestag fördern.

Wir fordern abschließend die Bundesregierung in ihrer Funktion als Exekutive auf, die Weichen zu stellen, um konkrete Initiativen für eine entsprechende Gesetzgebung zu ermöglichen. Die Bundesregierung ist zudem in der Pflicht, Beistand und Entschädigungen für die Opfer und deren Hinterbliebenen zu leisten.

Wir fordern die Bundesregierung und alle betroffenen Ministerien und Dienststellen sowie den deutschen Bundestag auf, sämtliche vom Kabinettsausschuss im November 2020 verabschiedeten „Maßnahmen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ in all seinen Einzelheiten konsequent umzusetzen und weiterzuentwickeln.

Der genannte Maßnahmenkatalog der Bundesregierung wird zu Recht auch „Förderung von Migrant*innenorganisationen“ genannt. Diese Organisation somit ihrer Mitglieder sind nicht nur selbst besonders stark von Rechtsextremismus und Rassismus betroffen. Sie treten auch in besonderem Maße und mit der besonderen Kompetenz von Betroffenen engagiert gegen jegliche Ausprägung von Rassismus und Ausgrenzung in Aktion. Nicht zuletzt dieses Engagement gilt es zu fördern und auszubauen.

Der Bundesverband NeMO als Dachverband von Migrant*innenverbünden ist mehr denn je davon überzeugt, dass wir die Zukunft nur gemeinsam und unter Achtung der Vielfalt in unserer Gesellschaft meistern können. Wir rufen daher alle politischen Akteure auf, zusammen mit uns ihren Beitrag für eine gemeinsame Gesellschaft der Vielen und eine neue Stadtgesellschaft zu leisten!

Der Bundesvorstand Netzwerke von Migrant*innenorganisationen e. V. (NeMO)

Dortmund/Berlin, den 19.Februar 2021