Positionierung zum Weltflüchtlingstag 20. Juni 2021:
Asylpolitik menschlich machen. Die Rahmenbedingungen für Ankommen und Teilhabe vor Ort verbessern: Unterstützung von Geflüchteten ist lokal-kommunale Daueraufgabe.
Die Unterstützung von Geflüchteten ist lokal-kommunale Daueraufgabe
Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) erklärt zum 20. Juni: „Seit 2001 wird der Weltflüchtlingstag jedes Jahr am 20. Juni begangen. Millionen von Menschen sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Einmal im Jahr, am 20. Juni, würdigen wir ganz besonders die Stärke, den Mut und die Widerstandsfähigkeit, die Flüchtlinge, Binnenvertriebene und Staatenlose täglich aufbringen.“
Er ist ein wichtiger Tag und eine gute Gelegenheit, um gemeinsam deutlich zu machen: Menschen auf der Flucht beweisen Tag für Tag ihre Stärke, ihren Mut und ihre Widerstandsfähigkeit. Sie verdienen einen menschenwürdigen Ankunftsort, der eine Perspektive auf Teilhabe eröffnet. Das ist ihr gutes Recht.
Viele Kommunen in Deutschland haben seit 2015 gezeigt: Es geht! Migrant*innen- Organisationen spielen beim langen Weg des Ankommens eine unverzichtbare Rolle. Der Bundesverband Netzwerke von Migrant*innen-Organisationen (BV-NeMO) mit seinen 22 lokalen Verbünden1 und über 700 Mitglieds-Organisationen stehen hierfür als ein herausragendes Beispiel.
Auch 2021 gilt: Das Flüchten geht aufgrund von Ungerechtigkeit, Kriegen, Umweltkatastrophen und Armut weiter
Es bleibt noch viel zu tun. Wir gehen davon aus, dass
• auch nach fünf Jahren das Ankommen nicht abgeschlossen sein wird, seine Unterstützung aber erhebliche Erfahrungen und Kompetenzen erfordert,
• die Corona-Krise zu einem Rückschlag im Prozess des Ankommens geführt hat, der aufgeholt werden muss,
• die Corona-Krise aber zugleich wie in einem Brennglas auf Problemlagen hinweist, die dringend bearbeitet werden müssen, unter anderem mit Blick auf die Lockerungen und den Impfprozess selbst,
• diejenigen Schutzsuchenden, die in der Zwischenzeit und vor allem während der Corona-Krise eingetroffen sind, dringender Unterstützung bedürfen,
• die Corona-Krise Fluchtbewegungen „gebremst“ hat, die beim Ausgang aus der akuten Krise wiedereinsetzen werden.
• eine große Zahl von Menschen,die sich bereits auf der Flucht in Richtung Europa befinden, an und vor den EU-Grenzen oder auf den Fluchtwegen aufgehalten werden. Ihr Ziel werden sie aber nicht aufgeben. Sie können von der EU und von Deutschland auf Dauer nicht abgewiesen werden. Ihnen wird ein geordnetes Asylverfahren eröffnet werden müssen.
Wir gehen auch davon aus, dass
• die EU – wenn sie ihre Werte nicht verspielen will – eine Asylpolitik etablieren muss, die zu einem regelmäßigen und verstärkten Zuzug von geflüchteten Menschen auch nach Deutschland führen wird,
• in Deutschland selbst die Stimmen, die auf eine Aufnahme von Menschen auf der Flucht und vor allem aus menschenunwürdigen Verhältnissen drängen, noch stärker werden; ein Beispiel dafür ist das Bündnis „Kommunen - Sichere Häfen“2.
Was ist in den letzten Jahren „vor Ort“ erreicht worden?
Solide Arbeitsweisen wurden entwickelt. Es wurden Räume und Kompetenzen bereitgestellt. Viele Städte haben die Unterstützung von Geflüchteten in ihr Profil und Selbstverständnis aufgenommen. Migrant*innen-Organisationen haben sich für die Arbeit mit Geflüchteten geöffnet, haben daraus gelernt und sie zu einem ihrer wichtigen Aufgaben gemacht. Wir nennen dies „eine wertvolle Infrastruktur der lokalen Unterstützung von Menschen mit Fluchtgeschichte". Sie darf nicht verloren gehen.
Wir sind überzeugt: Migrant*innen-Organisationen sind für das Ankommen und die Teilhabe von Menschen mit Fluchtgeschichte unverzichtbar. Eine lokale, gut ausgestattete Unterstützung von Geflüchteten unter aktiver Einbindung von Migrant*in- nen-Organisationen ist dauerhaft nötig - je erfahrener, kompetenter und je näher an den Menschen dran, umso besser.
Die verzweifelte Lage vieler Geflüchteter ist eine Folge der restriktiven Asylpolitik in Deutschland
In unserer Arbeit treffen wir auf viele Menschen mit Fluchtgeschichte, die sich in einer verzweifelten Lage befinden. Es sind vor allem jene, die im Asylverfahren sind und deren Aufenthaltsstatus noch ungeklärt ist oder die sich nach Verweigerung des Bleiberechts in „Duldung“ befinden. Mitte 2020 lebten nach offiziellen Zahlen3 rund 221.000 Personen mit einer Duldung in Deutschland, davon rund 134.000 mehr als drei Jahre. Die damit verbundenen eingeschränkten Rechte und die drohende Abschiebung beeinträchtigen ihr Leben in jeder Hinsicht. Wie restriktiv das Bleiberecht gehandhabt wird, zeigt sich auch daran, dass 30 Prozent der Entscheidungen vor Gericht keinen Bestand haben.
Die Asylverfahren können mehrere Jahre dauern. In dieser Zeit besteht unter anderem nach einer Zeit in einer Erstaufnahme-Einrichtung eine Wohnsitzauflage, was eine starke Einschränkung der Mobilität bedeutet. Ein Familiennachzug ist ausgeschlossen.
Eine Duldung ist rechtlich eine Aussetzung von Abschiebung aus unterschiedlichen Gründen. Mit der Duldung können sich die betroffenen Personen legal in Deutsch- land aufhalten, haben aber keinen positiven Aufenthaltsstatus, dass heisst, sie leben in Deutschland „auf Widerruf“. Duldungen werden oftmals nur für eine kurze Zeit gewährt; häufig kommt es aber zu „Kettenduldungen“. Geduldete Personen können unter bestimmten Bedingungen eine Beschäftigungs- oder Ausbildungserlaubnis erhalten. Die meisten Personen mit Duldung dürfen allerdings keinen Integrationskurs besuchen.
Asylpolitik menschlich machen
Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist die schrittweise Einschränkung des nach der nationalsozialistischen Terrorherrschaft 1949 im Grundgesetz verankerten Asylrechts – über den „Asylkompromiss“ von 1993 bis zum „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ von 2017 – bedrückend.
Die Sortierung in „sichere“ und „unsichere Herkunftsländer“ bedroht die sorgfältige und faire Prüfung der individuellen Fluchtgründe4. Die Einführung der AnkER-Zentren (AnkER für: Ankunft, Entscheidung und Rückführung) erfolgte mit dem Ziel, von Beginn an jene zu identifizieren, bei denen unterstellt wird, dass sie keine Bleibechance haben und um sie rasch „rückführen“ zu können. Dies sind alles Maßnahmen, um das Kontrollregime über die Einwanderung insgesamt weiter auszubauen.
Im Sinne dieses Kontrollregimes sollen angedrohte oder tatsächliche Abschiebungen offenkundig als Abschreckung gegenüber potenziellen Hilfesuchenden wirken. Bei den durchgeführten Abschiebungen ist fraglich, ob in jedem Fall die persönliche Gefährdungssituation und die kritische Lage im Zielland angemessen berücksichtigt wurden, insbesondere auch die durch die Corona-Pandemie verursachten Gefahren. Zudem werden immer wieder Familientrennungen in Kauf genommen sowie Abschiebehaft und nächtliche Abführungen durchgesetzt. Alles in allem erscheint die Abschiebepraxis unter Menschenrechtsgesichtspunkten mehr als problematisch.
Rahmenbedingungen für Ankommen und Teilhabe „vor Ort“ verbessern
Der BV-NeMO hat sich in verschiedenen Erklärungen5 mit einer Kritik an der Europäischen Asylpolitik und insbesondere an seinen Grenzregimes „einer Festung Europa“ klar positioniert und die Kritik an der aus humanitären Gründen dringend gebotenen Seenotrettung zurückgewiesen. Für die beschämende Lage in Europa und an seinen Grenzen ist die deutsche Politik mitverantwortlich. Der ständige Hinweis auf die Regelungs- und Einigungserfordernisse auf europäischer Ebene entlastet die deutsche Politik nicht von ihrer Verantwortung dafür, was in Deutschland geschieht! Davon ist hier die Rede.
Eine lokale und gut ausgestattete Arbeit mit Geflüchteten unter der aktiven Einbindung von Migrant*innen-Organisationen ist unverzichtbar. Die seit 2015 aufgebauten Infrastrukturen und Kooperationen müssen erhalten und weiter gefördert werden.
Wie können die Rahmenbedingungen noch verbessert werden?
➢ aktuell durch den Verzicht auf Abschiebungen während der anhaltenden Corona-Krise in Deutschland und anderen Zielländern,
➢ dauerhaft durch eine „Zähmung“ der Abschiebepraxis bei rechtzeitiger Bereitstellung von Informationen und Rechtsbelehrung sowie unter Beachtung von Familienzusammenhängen, Kindeswohl, Integrationsfortschritten, individueller Lage des Falls und strikter Unterlassung von erzwungener Rückkehr in ein Land, in dem Menschenrechtsverletzungen drohen (Grundsatz der Nichtzurückweisung der Genfer Flüchtlingskonvention),
➢ aktuell und mittelfristig durch die dezentrale Unterbringung von Menschen mit Fluchtgeschichte in Wohnformen jenseits von Gemeinschaftsunterkünften; Menschen in Gemeinschaftsunterkünften und anderen beengten Wohnverhältnissen sind in besonderer Weise von der Corona-Pandemie betroffen,
➢ aktuell durch die Sicherung und Förderung des Zugangs zum Gesundheitssystem unter besonderer Beachtung der Herausforderungen, die sich durch die Corona-Pandemie ergeben6,
➢ aktuell durch die Öffnung der Integrationskurse von Anfang an - unabhängig von Herkunft und Status,
➢ durch die pro-aktive Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe der Geduldeten, einschließlich der Unterstützung beim Zugang zu Arbeit und Ausbildung,
➢ dauerhaft durch die Möglichkeiten eines Spurwechsels, der es Asylbewerber*innen während oder nach negativem Ausgang des Asylverfahrens ermöglicht, ein Aufenthaltsrecht zu erhalten7,
➢ aktuell und mittelfristig sind Bleiberechtsregelungen für Langzeit-Geduldete erforderlich
Der BV-NeMO stimmt mit dem Deutschen Städtetag8 in wichtigen Punkten überein. Der Deutsche Städtetag erklärte unter anderem: „Geduldete Menschen sind Teil der Gesellschaft. Unabhängig von ihrem Status leben sie teilweise seit mehreren Jahren in den Städten. Ohne ein Mindestmaß an Unterstützungsleistungen entstehen nach der kommunalen Erfahrung vielfältige Problemlagen. Das steigert Ressentiments gegenüber um Asyl nachsuchende Menschen insgesamt. Die Städte werden jedoch mit der notwendigen Unterstützung dieses Personenkreises allein gelassen.“
Die Städte – insbesondere jene, die sich als „Sichere Häfen“ zu einer verstärkten Aufnahme von Geflüchteten bereit erklären – brauchen förderliche rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen. Dies muss – so die Forderung des BV-NeMO – auch die kurz- und langfristige Sicherung der aufgebauten Strukturen und Kompetenzen zur Unterstützung von Geflüchteten einschließen. Hierbei sind Migrant*innen-Organisationen unverzichtbar.
1 Diese lokalen Verbünde nehmen an dem bundesweiten Projekt samo.fa (Stärkung von Aktiven aus Migrant*innen-Organisationen in der Flüchtlingsarbeit) in 32 Städten teil. Das Projekt wird seit 2016 durch die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration gefördert.
2 https://seebruecke.org/sichere-haefen/sichere-haefen/
3 Ausländerzentralregister laut BT-Drucksache 19/22457
4 Pro Asyl. Der Einzelfall zählt.
6 „Wir Migrant*innen schlagen Alarm: Die Corona-Krise macht ungleicher!“ Positionierung des BV- NeMO vom 16.Februar 2021
7 Vergleich hierzu auch: Der Paritätische Gesamtverband: Kein ‚Weiter so‘ – Lehren der Corona-Pandemie für den Flüchtlingsschutz und menschenwürdige Aufnahmebedingungen, Berlin 19.Juni 2020
8 Deutscher Städtetag: Geduldete Personen – Herausforderungen der Städte. Positionspapier des Deutschen Städtetages vom 26. November 2020