Fluchtmigration und Arbeitsmigration: Warum geht es?
Menschen, die in ein anderes Land ziehen, um dort zu leben, sind in diesem neuen Land Einwanderer. Hierfür gibt es verschiedene Gründe: Arbeit, Bildung und Ausbildung, Familie und vor allem auch: Flucht. Nationaler Einwanderungspolitik ging es in der Vergangenheit und geht es auch heute vor allem darum, entscheiden zu können, wer sich dauerhaft ansiedelt. Es wird die problematische Idee eines „Staatsvolks“ bemüht, dessen Zusammensetzung man kontrollieren möchte. Ein Weg ist dabei, so strikt wie möglich vor allem zwischen Fluchtmigration und Arbeitsmigration zu unterscheiden und diese unterschiedlich zu regulieren: Fluchtmigration über die Asylgesetzgebung, Arbeitsmigration über Gesetze, wie z.B. das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz.
Für die bisherigen, CDU/CSU-geführten Bundesregierung gehörte es zu den Grundüberzeugungen, vor allem auch nach dem „Sommer des Willkommens 2015“: Asyl zu begrenzen und – wegen des immer stärkeren Fachkräftemangels – Arbeitseinwanderung zu fördern, aber diese mit Kriterien und Bedingungen zu versehen und zu kontrollieren. Deswegen stand man auch einem „Spurwechsel“ zwischen Asyl und Arbeitseinwanderung eher ablehnend gegenüber.
„Paradigmenwechsel“: Was und Wie?
Nun verspricht die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag einen „Paradigmenwechsel“: „Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird. Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel: Mit einer aktiven und ordnenden Politik wollen wir Migration vorausschauend und realistisch gestalten.“ (S.137)
Überfällig und zu begrüßen ist, dass eine Bundesregierung von Deutschland ohne „wenn&aber“ von einem Einwanderungsland spricht. Aber: Worin soll der angekündigte „Paradigmenwechsel“ in der Substanz bestehen, wenn man von schön klingenden Formeln einmal absieht?
- Im Feld der Asylpolitik:
- Bleiberecht. Der Begriff „Spurwechsel“ taucht nicht auf, aber faktisch soll Fachkräften, die im Asylverfahren sind, die Möglichkeit haben, eine reguläre Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, das Bleiberecht soll auf der Basis von vorhandener Beschäftigung oder Ausbildung (=Duldung) deutlich ausgeweitet werden, auch für abgelehnte Asylbewerber. Damit soll die „Ketten-Duldung“ entfallen. Als Idee wird ein „Chancen-Aufenthaltsrecht“ für diejenigen genannt, die bis 2016 eingereist sind.
- Teilhabe für Geflüchtete. Integrationskurse soll für alle geöffnet und eine umfassende Arbeitserlaubnis im Asylverfahren gewährleistet werden. Die AnkER-Einrichtungen sollen abgeschafft werden.
Zugleich aber wird eine „Rückführungsoffensive“ bei abgelehnten Asylbewerbern in sogenannte sichere Herkunftsländer angekündigt, die allerdings nicht mit neuen Maßnahmen hinterlegt ist. Zwar wird gesagt, man wolle „das Leid an den Außengrenzen beenden“, wie z.B. über eine staatlich koordinierte Seenotrettung. Hierfür aber ist die EU zuständig und es bleibt vage, wie Deutschland hierbei Veränderungen bewirken will. Aufnahmeprogramme für Kommunen, wie sie etwa die breite Initiative „Kommune. Sichere Häfen“ fordert, bleiben in der Koalitionsvereinbarung unerwähnt.
- Im Feld der Arbeitsmigration:
- Durch verschiedene Maßnahmen sollen nichtakademische Fachkräfte stärker angeworben werden; zugleich soll es bei der Anerkennung ausländischen Qualifikationen darum gehen, die Hürden „abzusenken, Bürokratie abzubauen und Verfahren zu beschleunigen.“ Die Westbalkanregelung soll entfristet werden. Außerdem soll ein Punktesystem für Arbeitseinwanderung entwickelt werden.
- Im Feld der Teilhabe:
- Ein gerichtlich einklagbares Einbürgerungsrecht soll es nach fünf Jahren geben, ggf. schon nach drei Jahren; die Doppelte Staatsbürgerschaft soll generell erlaubt sein. Der Familiennachzug soll ohne Voraussetzungen erlaubt sein.
Mäßig neu, dennoch sofort umstritten
Insgesamt kommt z.B. der Migrationsforscher und Juraprofessor Daniel Thym, stellvertretender Vorsitzender des SVR, zu der Einschätzung: „Die Ampel ist viel näher am Kurs von Frau Merkel, als manchem vermutlich lieb ist“ (Interview in „Der Spiegel“ vom 30.11.2021). Dennoch macht die CDU Front gegen die moderaten Veränderungen, wie sie im Koalitionsvertrag vorgesehen sind, so z.B. der saarländische Innenminister Klaus Bouillon in einer Presseerklärung (vom 14.2.2022), in der direkt die neue Innenministerin Nancy Faeser angesprochen wird:
„Die Migrationspolitik der Bundesregierung darf keinesfalls zu einem Sicherheitsrisiko für das Saarland und Deutschland werden und nicht zu einer Überforderung bei der Aufnahme von Geflüchteten führen“. Im Einzelnen werden folgende Maßnahmen als Teile eines „migrations- und sicherheitspolitischen Irrwegs“ genannt: dass Deutschkenntnisse beim Familiennachzug nicht mehr gefordert werden, die Widerrufsprüfung bei Asylverfahren nur noch anlassbezogen erfolgen, die Einschränkungen bei „Personen mit ungeklärter Identität“ entfallen, alle Arbeitsverbote abgeschafft werden und untergetauchte Personen anonym medizinische Hilfe erhalten sollen.
In den ersten 100 Tagen
- EU-politisch
Von der neuen Innenministerin Nancy Faeser gehen tatsächlich ganz andere Botschaften als von ihrem Vorgänger Seehofer. Sie sagt mehr Offenheit bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu und wirbt in der EU für eine „Koalition der Willigen“ als Initiative, die europäische Migrationspolitik neu zu ordnen. Ziel sei es, reguläre Einwanderung zu erleichtern und illegale Migration zu dämpfen (Der Tagesspiegel vom 9.2.2022). Die Idee ist, dass ein Teil der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sich bereiterklären, Flüchtlinge aufzunehmen und die anderen als Ausgleich Zahlungen leisten. Und trifft damit sofort auch in Deutschland auf Kritik: „Sicherheitsbehörden warnen im internen Schreiben“, damit könne „illegale Migration“ stärker werden (Merkur 9.2.2022).
Diese zügige Initiative steht im Kontrast zur fortbestehenden Realität von Abschottung und Push-Backs an den EU-Außengrenzen, die immer wieder schnell vergessen oder durch aktuelle Geschehnisse, wie den Ukraine-Kritik überdeckt wird: in Griechenland, auf der Balkanroute, an der Grenze von Belarus zu Polen, im Mittelmeer, an der libyschen Küste… (vergleiche fortlaufend die Dokumentation Flüchtlinge in: www.spiegel.de/thema/fluechtlinge )
- Hat sich Aufnahme von und Umgang mit Geflüchteten verändert?
Zum Kontrast von Plänen und Realität gehört auch: „Enttäuschte Hoffnungen. Einige Bundesländer wollen mit eigenen Initiativen Menschen aus Afghanistan einreisen lassen. Ex-Innenminister Seehofer blockierte das – unter der Ampel-Regierung hakt es weiter“( Frankfurter Rundschau vom 5./6.2.2022)
Der in der Koalitionsvereinbarung angekündigte „Paradigmenwechsel“ stößt sich – noch? – an dem, was in Deutschland seit Langem Realität des Umgangs mit Geflüchteten ist. So z.B. „Nachfrage beim Innenministerium zeigt: Integrationskurse doch nicht für alle“ (FR 13.1.2022), „Pflegehelfer droht Abschiebung. Pakistaner soll trotz gelungener Integration in Mittelhessen ausgeflogen werden“ (FR 15./16.1.2022), „Abschiebung zur Hinrichtung. Die deutschen Behörden verweigern einem jungen Tschetschenen und seiner Mutter Asyl“ (FR 27.1.2022), oder: „Hohe Schulden durch Abschiebung. Zurückgekehrter Geflüchteter soll 23.000 Euro für Haft und Charterflug zahlen“ (FR 29./30.1.2022). NeMO-Mitglieder berichten aus Bayern, dass nicht zu erwarten sei, dass dort die AnkER-Zentren abgeschafft oder dort die Beschulung verbessert würde. Abschiebehaft bleibe und hierzu werde in Hof gerade eine neue Einrichtung vorbereitet.
- Woher sollen die Fachkräfte kommen?
Als ein Motiv für eine Veränderung der Einwanderungspolitik wird stets der Fachlräftemangel hervorgehoben: „Dramatischer Mangel an Fachkräften. Zuwanderung könnte der demographischen Entwicklung entgegenwirken“ (FR 7.2.2022). Wirtschaftminister Robert Habeck äußerte sich hierzu explizit „Wir werden in eine dramatische Fach- und Arbeitskräftelücke einlaufen, wenn wir nicht mehr Maßnahmen ergreifen“, sagte er. Nötig sei es deshalb, mehr Menschen zu qualifizieren, aber auch „mehr Fachkräftezuwanderung zu organisieren“. Im Zusatzkapitel des Jahreswirtschaftsberichts finde sich die für ihn „erschreckendste Zahl“, nämlich, dass zehn Prozent derjenigen, die eine Schule besuchen, diese ohne einen Abschluss wieder verlassen, sagte Habeck. „Das kann nicht so bleiben“, fügte er hinzu. „Wenn wir über Fachkräftemangel reden, „ist das die erste Aufgabe, die wir angehen müssen“ (in: Habeck erwartet 2023 weniger Wachstum, ntv vom 28.1.2022)
Es zeigt sich, dass unsere „10 Punkte“ auch jetzt noch aktuell sind:
- Die neue Bundesregierung mit ihrer Innenministerin hat schnell eine Initiative für einen Umbau der europäischen Asylpolitik ergriffen. Was daraus wird, ist unklar. Von einer „Bleiberechtskultur“ ist keine Rede. Offensichtlich wird auch die Grundarchitektur eine „Festung Europa“ nicht infrage gestellt. Die Lage der Geflüchteten an den EU-Außengrenzen ist nach wie vor menschenverachtend skandalös. Eine große Bereitschaft zur raschen zusätzlichen Aufnahme Geflüchteter ist nicht zu erkennen. Die versprochene Aufnahme von Menschen aus Afghanistan stagniert. Insgesamt können wir – noch? – wenig Abkehr von der bisherigen restriktiven Politik erkennen. Das kritisieren wir.
- Die neue Innenministerin Nancy Faeser ist sofort zu einer Zielscheibe für massive Angriffe und Verleugnungen geworden. Das liegt weniger an einer faktisch neuen Politik, die noch nicht da ist, sondern an Programm und Haltung. Wir verurteilen diese Kampagne. Frau Faeser findet unsere Unterstützung, vor allem dann, wenn aus ihrer Haltung wirklich eine neue, bessere Politik wird.
- Es gibt immer noch menschenverachtende Abschiebungspraktiken in Deutschland. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass dies verurteilt und abgestellt wird.
- Weder in der Koalitionsvereinbarung noch danach wird der kommunalen Ebene für einen gelingenden Umgang mit Geflüchteten und eine gute Einwanderungspolitik die Bedeutung beigemessen, die ihr zukommt und die sie faktisch schon immer hat. Wir erneuern dringlich unsere Forderungen.
- Migrant*innen-Organisationen sind in der Geflüchtetenarbeit wie der Einwanderungspolitik praktisch und als kompetente Partner unverzichtbar. Auch diese Einsicht findet sich weder in der Koalitionsvereinbarung noch wurde sie bisher sichtbar.
- Die Ansätze zum Bleiberecht gehen in die richtige Richtung, auch Asylsuchenden Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland zu eröffnen. Dies muss nun rasch und konsequent umgesetzt werden. Das ist ein humanitäres Gebot. Hinzu tritt als weiteren Grund auch der sich abzeichnende immer stärkere Fachkräftemangel. Die Erkenntnis von Wirtschaftsminister Habeck, dass 10 Prozent der Schüler*innen die Schule ohne Abschluss verlassen, ist wirklich nicht neu, bleibt aber wichtig. Ein erheblicher Teil von ihnen kommt aus Familien mit Einwanderungsgeschichte, die schon seit Jahrzehnten hier leben. Nicht nur der bisherige Umgang mit Geflüchteten, sondern auch die Benachteiligung dieser Kinder und Jugendlichen zeigt, dass wir von einer guten Einwanderungsgesellschaft noch weit entfernt sind. Und auch hier gilt: den richtigen Einsichten endlich Taten folgen lassen!
- Wir begrüßen die Erleichterung der Einbürgerung und die Doppelte Staatsangehörigkeit und dringen darauf, dass dies sehr zügig umgesetzt wird.
- Von den 21,2 Millionen Personen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben, waren 11,1 Millionen Deutsche und 10,1 Millionen Ausländer (52,4 bzw. 47,6 Prozent). Von den etwa 16 Millionen Volljährigen haben lediglich 7,4 Millionen Wahlrecht. Anders gesagt: rund 12,6 Prozent der Erwachsenen, die in Deutschland leben, haben kein Wahlrecht für den Bundestag. Diese Problematik fehlt in der Koalitionsvereinbarung und sie spielt auch bis jetzt keine Rolle. Der Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat (BZI) zeigt sich hierüber mehr als enttäuscht: „Die Ampel-Parteien halten Migrant*innen ohne deutschen oder EU-Pass auf kommunaler Ebene für unmündiger als nun wahlberechtigte 16-jährige Teenager“ (Pressemitteilung vom 24.11.2021). Wir sagen: Wahlrecht ab 16 ist okay; wir fordern dringend das kommunale Wahlrecht für alle ab 16 Jahren.