erschienen in der ECHO der Vielfalt im Dezember 2021
Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei ein Abkommen zur temporären Anwerbung von Arbeitskräften. Viele türkische Arbeitskräfte blieben dauerhaft und wurden zum Teil der deutschen Gesellschaft. Weitere Abkommen mit anderen Ländern folgten. Schon 2015 erinnerte der VMDO in Dortmund mit einer Wanderausstellung daran. Schon ihr Titel „Onkel Hasan und die Generation der Enkel“ weist daraufhin und die Ausstellung zeigt, dass und wie aus der ersten Arbeitsmigration nach Deutschland allmählich aus Dortmund eine Einwanderungsstadt und aus Deutschland ein Einwanderungsland entstanden ist.
Im Jahr 2019 hatten 21,2 Millionen der insgesamt 81,8 Millionen Einwohner*innen in Deutschland einen Migrationshintergrund (Zugewanderte und ihre Nachkommen) – das entspricht einem Anteil von 26,0 Prozent an der Gesamtbevölkerung.
Migrant*innenorganisationen unverzichtbar
Vieles ist inzwischen geschehen. So haben sich zum Beispiel Migrant*innen-Organisationen aus Vereinen, die ein Stück Heimat in einer fremden Welt sein wollten, heute zu einer Stimme für die Interessen der Menschen mit Einwanderungsgeschichte entwickelt, die ihren Lebensmittelpunkt hier gefunden haben.
Ein gutes Beispiel hierfür ist der VMDO, der als lokaler herkunftsübergreifender Verbund, bald 50 verschiedene Vereine als Mitglied hat und sich im Bundesverband Netzwerke von Migrantenorganisationen engagiert, den der VMDO initiiert hat. Die bundesweit 20 lokalen Verbünde des BV NeMO, in denen sich insgesamt ca. 800 Vereine versammeln, trafen sich zu ihrer Mitgliederversammlung am 6.November in Dortmund. Dies war ein Zeitpunkt nach der Bundestagswahl, aber vor dem Antritt einer neuen Regierung. Es lief aber alles auf das hinaus, was nun Fakt ist, nämlich eine „Ampel-Koalition“.
Fortschritt, Fortschritt…: Erwartungen an eine neue Regierung
Auf der Mitgliederversammlung wurde als eine Art Prüfkatalog ein Katalog „10 Punkte für die ersten 100 Tage“ beschlossen. Dieser 10-Punkte-Katalog hat die Überschrift: Fortschritt ist auch: Aus Deutschland eine gute Einwanderungsgesellschaft machen. Warum diese Überschrift? Die Ampel-Koalition bezeichnet sich selbst als Fortschrittskoalition. Der BV NeMO sagt: Fortschritte sind in vielen Feldern nötig. Zugleich müssen der Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft ist nun auch Taten folgen. Natürlich kann keine Regierung in den ersten 100 Tagen alles erledigen, was ansteht, aber sie kann in den ersten 100 Tagen Weichen stellen.
Besonders wichtig und dringend ist die Forderung nach Fortschritt für eine gute Einwanderungsgesellschaft, weil die Corona-Krise wie in einem Brennglas zeigt, dass Deutschland als Einwanderungsgesellschaft sich in einer tiefen Krise befindet.
Einwanderungsgesellschaft im Krisenmodus
Wieso kommt der BV NeMO zu dieser Einschätzung? Viele Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte sind von Corona und ihren Folgen in besonders negativer Weise betroffen, weil ihre soziale Lage schon vorher problematisch war: im Gesundheitswesen, bei der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt, in Hinblick auf beengte Wohnverhältnisse und durch verstärkten Rassismus, der auch eine Begleiterscheinung der Corona-Krise ist. Der BV NeMO weiß, wovon er spricht: er ist mit seinen lokalen Verbünden nahe bei den Menschen. Wie der VMDO. Die Ausgaben des „ECHO der Vielfalt“ seit Beginn der Corona-Krise bieten mit Hintergrundinformationen, Reportagen und Dokumentationen eine Art Bericht „zur sozialen Lage“ von Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte.
10 Punkte für die ersten 100 Tage
Dies sind die 10 Punkte: 1) Gute Bildung für alle und Gesundheit in und nach der Corona-Pandemie, Jetzt besonders dringlich, (2) Für eine humane Asylpolitik, (3) Umweltgerechtigkeit und globale Solidarität, (4) Teilhabe: mit guter Arbeit! Vielfalt, vor allem auch im Öffentlichen Dienst, (5) Gegen Fachkräftemangel: Ausbildung und Einwanderung, (6) Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung, (7) Gleiche politische Rechte für alle, (8) Statt der leerlaufenden „Integrationsgipfel“ einen „Pakt für Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft“, (9) Migrant*innen-Organisationen unverzichtbar, (10) Masterplan „Über Corona hinaus“ (Zu den kompletten Forderungen)
Der Koalitionsvertrag: eine neue Aufgeschlossenheit
Nun liegt der 177-seitige Koalitionsvertrag vor, der mittlerweile von allen beteiligten Parteien gebilligt wurde. Er ist so etwas wie die Blaupause für das künftige Regierungshandeln und damit auch das Rahmenpapier für die ersten 100 Tage.
Bei einer ersten Durchsicht muss kann festgehalten werden: es gibt viele Berührungs- und Anknüpfungspunkte zu den 10 Punkten des BV NeMO. Das ist erfreulich. In Wort und Geist zeigt sich eine viel größere Aufgeschlossenheit gegenüber den Fragen, die mit einer guten Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft verbunden sind. Programmatisch deutlich wird dies in folgendem Satz: „Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird. Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel.“
Also ein neues Leitbild. Das ist dringend notwendig und überfällig. Vieles im Koalitionsvertrag liest sich auch deswegen sehr fortschrittlich und frisch, weil es eben in wichtigen gesellschaftlichen Feldern, vor allem was Migration und Asyl betrifft, jahrelang Stagnation und sogar Rückschritt gegeben hat und an hoher Nachholbedarf besteht. Dass es jetzt diesen Veränderungswillen gibt, ist sehr gut. Aber auf die Umsetzung kommt es an.
Einwanderungsgesellschaft als Querschnittsfrage?
Die 10 Punkte von BV NeMO weisen daraufhin: Einwanderungsgesellschaft ist Wirklichkeit in allen Lebensbereichen der Menschen und müsste deshalb auch in allen Politikbereichen ein wichtiger Bezug sein. Einwanderungsgesellschaft ist eine Querschnittsfrage.
Im Koalitionsvertrag aber fehlt dieser Querschnittsansatz. Fragen der Einwanderungsgesellschaft werden klassisch vor allem auf Migration, Asyl und Rassismus und als ein spezielles Politikfeld verengt – allerdings mit vielen positiven Ansätzen -, ergänzt um eine noch weiter zu präzisierende Vielfaltpolitik. Vieles wird konventionell unter dem Stichwort ‚Integration‘ abgehandelt, wo nach 60 Jahren Einwanderung endlich Teilhabe angemessen wäre.
Deutschland als Einwanderungsgesellschaft: kaum im Blick
Von daher fehlt eine Gesamtsicht auf den Zustand Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft. Das gilt auch für die gesundheitlichen und sozialen Folgen von Corona. Zur Erinnerung: Am 26. Februar 2021 führte der BV NeMO unter der Überschrift „Wir Migrant*innen schlagen Alarm: Corona-Krise macht ungleicher!“ einen bundesweiten Aktionstag durch. Es ging darum, präventive Maßnahmen zur Vermeidung verstärkter sozialer Ungleichheit und für die Stärkung der Teilhabe einzufordern. Die dort entstandene Forderung nach einem „Masterplan „Über Corona hinaus“ findet im Koalitionsvertrag kein Echo, wie insgesamt die Erfahrung, die viele Menschen vor Ort machen, nämlich, dass die Einwanderungsgesellschaft in der Krise ist im Koalitionsvertrag keine Entsprechung findet.
Folglich finden Migrant*innenorganisationen im Koalitionsvertrag auch nur beiläufig Erwähnung, während sie tatsächlich für die gute Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft von erheblicher Bedeutung sind. Damit wird das lokale Engagement, an dem sehr viele ehrenamtlich Aktive beteiligt sind, und für das auch der vmdo mit seinen Mitgliedsvereinen steht, weiterhin unterbewertet.
Der BV NeMO trifft sich zu einer Zwischenbilanz nach 100 Tagen am 21.März 2022 in Berlin.