Wir rufen Fachkräfte, und es kommen wieder Menschen

Bericht von Dr. Elizabeth Beloe zur Jubiläumskonferenz „Anerkennung öffnet Türen – 10 Jahre Anerkennungsgesetz“

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Anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Anerkennungsgesetzes wurde ich, Dr. Elizabeth Beloe, als Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Netzwerke von Migrant*innenorganisationen e. V. (NeMO) am 3. Mai 2022 zur Jubiläumskonferenz „Anerkennung öffnet Türen – 10 Jahre Anerkennungsgesetz“ eingeladen. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion diskutierte ich mit Vertreter*innen aus Politik und Wirtschaft zu diesem Thema. 

„Anerkennung im Gespräch: Die Rolle der Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen für Integration, Fachkräftegewinnung und Qualitätssicherung“

Teilnehmende der Podiumsdiskussion waren:

  • Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) mit einer Keynote
  • Ayse Asar, Staatssekretärin im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst
  • Dr. Jens Brandenburg, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung
  • Dr. Elizabeth Beloe, Vorstandvorsitzende des Bundesverbands Netzwerk von Migrant*innenorganisationen (NeMO)
  • Markus Biercher, Geschäftsführer Internationales der Bundesagentur für Arbeit
  • Christina Ramb, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA)

Hier einige Ausführungen meines Beitrags zur Podiumsdiskussion:

Einleitung

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

bei den Aktiven im Netzwerk „Integration durch Qualifizierung“ und im Bundesministerium für Bildung und Forschung bedanke ich mich herzlich für die Einladung. Diesem Gesprächsangebot bin ich gern gefolgt.
Der Bundesverband Netzwerke von Migrant*innenorganisationen (NeMO) ist ein Zusammenschluss von 21 Verbünden in 10 Bundesländern mit insgesamt mehr als 750 Vereinen vor Ort.

Von den NeMO-Verbünden und assoziierten Trägern befassen sich zahlreiche migrantische Akteur*innen mit dem Thema „Anerkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse“ – in Augsburg, Berlin, Bielefeld, Kiel, Hannover und München. Zwei Verbünde sind IQ-Anerkennungsberatungsstellen, bieten also selbst Beratungen an: Es handelt sich um MOZAIK e. V. in Bielefeld und kargah e. V. in Hannover.

Chancen des Anerkennungsgesetzes

Früher, zum Beispiel im Jahr 2005, gab es für Menschen aus den sogenannten Drittstaaten keinen gültigen Rahmen, um ihre Abschlüsse anerkennen zu lassen. Es waren über 300.000 Personen mit Abschluss, die unter ihrer Qualifikation gearbeitet haben. Punktuell existierte damals zwar eine Zusammenarbeit mit den Kammern. Doch eine Anerkennung der Abschlüsse war nicht verpflichtend.

Mir ist an dieser Stelle wichtig zu sagen: Wir müssen es als Fortschritt anerkennen, dass es überhaupt ein Gesetz für die im Ausland erworbenen Abschlüsse gibt. Dank dieses Gesetzes besteht überhaupt die Möglichkeit, ein Recht auf Anerkennung zu erhalten. Positiv ist darüber hinaus auch, dass bei manchen Anerkennungsverfahren die Berufserfahrung berücksichtigt wird.

Sieben Hürden bei der Anerkennung und Beschleunigung des Verfahrens

Die Hindernisse bei der Anerkennung und Beschleunigung des Verfahrens schätzen wir als BIPoC und migrantische Organisation wie folgt ein:

  • Erste Hürde: Passende Beratungsstelle zu finden ist nicht einfach.
  • Zweite Hürde: Dieses Hindernis beschreibe ich als Zugangsbarriere zu reglementierten Berufen. Das Krankenhaus in Berlin-Neukölln hat eigentlich eine qualifizierte und passende Arbeitssuchende an der Hand – aber diese Person muss ein Praktikum (bei reglementierten Berufen) absolvieren. Denn: Es werden lange Praktika-Zeiten in den Krankenhäusern vorausgesetzt.
  • Dritte Hürde: In der Türkei muss man für den MRT-Beruf vier Jahre studieren. In Deutschland sind es dreieinhalb Jahre. Im Anerkennungsverfahren wird allerdings beispielsweise eine Dokumentationspflicht in Form von Stundennachweisen oder Stundenaufzählungen erwartet. Dies stellt sich für politisch verfolgte Personen als eine nicht überwindbare Hürde heraus.
  • Vierte Hürde: Deutschkurse, die den fachlichen und formalen Anforderungen entsprechen, sind nicht überall im Ausland verfügbar. Eine Einreise zum Spracherwerb in Deutschland ist gesetzlich möglich – allerdings ist eine Anmeldung zu Kursen im Rahmen der Deutschsprachförderverordnung (DeuFöV) Auszubildenden aus dem Ausland vorbehalten. Auch die Sicherung des Lebensunterhalts während des Spracherwerbs und der anschließenden Qualifizierungsmaßnahmen ist für viele ausländische Fachkräfte herausfordernd.
  • Fünfte Hürde: Der neue Paragraph 16d des Aufenthaltsgesetzes ermöglicht Fachkräften die Einreise, um an Maßnahmen zur Anerkennung ihrer ausländischen Qualifikationen teilzunehmen. Das Verfahren geht mit langer Planung und Vorbereitung einher. In diesen Fällen müssen für eine volle Anerkennung erst noch Unterschiede zum deutschen Referenzberuf durch den Besuch von Qualifizierungsmaßnahmen oder durch praktische Erfahrung in Betrieben ausgeglichen werden. Sprachkenntnisse sind zu erwerben oder bestimmte Kompetenzen in Prüfungen nachzuweisen. Doch für einreisewillige Fachkräfte und deren potenzielle Arbeitgeber geht das Verfahren mit monatelanger Vorbereitung und Planung einher.
  • Sechste Hürde: Herkunftssprachige Beratung wird nicht gefördert und angeboten. Migrant*innenorganisationen leisten hier einen immensen Beitrag, der nicht aufgewertet wird. Es fehlt der Service-Gedanke!
  • Siebter und letzter Kritikpunkt: Das Anerkennungsgesetz ist sehr wirtschaftsgeleitet. Es verursacht einen Brain Drain, also eine Abwanderung von hochqualifizierten Talenten und Kompetenzen.

Wir rufen Fachkräfte, und es kommen wieder Menschen

Frei nach Max Frisch: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ 

Wir befinden uns im Jahr 2022. Das Land ringt um Fachkräfte und lädt sie aus dem Ausland ein, bei uns zu leben. Damit kommen Menschen. Sie verdienen Respekt und Würde in jeder Hinsicht. Dies wird weder im Anerkennungsgesetz noch im Koalitionsvertrag konsequent mitgedacht.

Arbeitssuchende Menschen gibt es bereits viele im Inland. Was denken wir zu tun mit ihnen zu tun? Wie unterstützen wir die arbeitslosen Jugendlichen in unseren Quartieren? Und: Wieso existieren keine Förderprogramme, um sie auszubilden? Gerade warnen Handwerksbetriebe erneut vor zu wenigen Auszubildenden. Der Fachkräftemangel ist überall spürbar. Wo bleibt jetzt eine Offensive als bundesweite Maßnahme? 

Es braucht ein Programm für arbeitslose Jugendlichen mit Migrationsgeschichte, um sie in den spezifischen Bereichen auszubilden – was sich zugleich förderlich auf die Struktur der einzelnen Bundesländer wie auch der gesamten Bundesrepublik auswirkt.


Meine Empfehlungen

Im Namen des Bundesverbands NeMO empfehle ich, Dr. Elizabeth Beloe, als Vorstandsvorsitzende folgendes: Zunächst sollten allgemeine Faktoren, die auch für alle andere Migrant*innen gelten, sichergestellt werden. So kann die Arbeitsmarktintegration besser und schneller gelingen. Wie genau?

  • Ruhe im Alltag schaffen
  • Eine stabile Wohnung anbieten
  • Ein stabileres Aufenthaltsrecht sicherstellen
  • mehr Personal für die Bearbeitung der Unterlagen bereitstellen – damit die Vergabe der Prüfungstermine unter einem Jahr oder sogar sechs Monaten gelingt

Des Weiteren ist wichtig:

  • Die derzeitige Handhabung der Legalisierungen von Abschlüssen und Arbeitserfahrungen während des Fachkräftemangels ist wenig sinnvoll! Die Behörden wollen gute Ärzt*innen – um sie zu finden, sollten eher individuelle Lösungen, sprich progressive Ansätze entstehen.
  • Eltern (speziell Alleinerziehende) sollten mehr entlastet werden, damit sie sich intensiver auf ihre Berufe einlassen können.
  • Projekte, nach dem Modell der syrischen Ärzt*innen, die einen eigenen Verband gründen, sollten stärker gefördert werden.
  • Statt ältere (syrische) Ärzt*innen mit viel Erfahrung für zwei bis drei Jahre in Deutschkurse zu schicken, könnten andere Sprachen zur beruflichen Integration geschaffen werden! Qualität ist gefragt. Nationalität sollte keine Rolle spielen.
  • Progressive und individuelle Ansätze sind vonnöten – vor allem für ältere Ärzt*innen, die regelrechte Phobien gegen Behördengänge entwickelt haben. Auch eine Staffelung der Anforderung sollte ganz besonders für traumatisierte und ältere Menschen erreicht werden.
  • Arbeitssuchende brauchen dringend mehr Unterstützung. Die Lebensrealität der Menschen ist in den Fokus zu rücken – und nicht wirtschaftliche Interessen.
  • Alternative Berufswege sollten besser kommuniziert werden. Das gilt zum Beispiel im Fall von Zahnärzt*innen, von denen viele nicht in einen Beruf hierzulande kommen. Damit sind aber auch Tätigkeiten gemeint, die nicht im direkten Patient*innen-Kontakt stattfinden. Beispiele sind Tätigkeiten in der Apotheke, im Labor oder an Universitäten, etwa für Forschungsarbeiten.
  • Gewerkschaftliches Empowerment der Fachkräfte sollte gestärkt werden: Aufbau einer Servicestelle mit Beschwerdestelle für alle Fachkräfte
  • Von Deutsch-Fixierung abweichen und stattdessen eine interkulturelle Öffnung der Behörden und Verwaltungen ermöglichen
  • Im Anerkennungsverfahren ist es erforderlich, strukturelle Barrieren zu überwinden. Das heißt: Bei beschleunigtem Anerkennungsverfahren müssen Menschen viel Geld bezahlen, ohne dass ein wirklicher Fortschritt ersichtlich ist. Es braucht die Schaffung eines Netzwerks beziehungsweise die Verzahnung der Angebote und der effizienten Begleitung der Menschen im Anerkennungsverfahren. Es fehlt der Aspekt „soziale Integration“ im Anerkennungsgesetz. Strukturelle Veränderung muss ein fester Bestandteil des Anerkennungsgesetzes sein.