Armut ist (k)eine Schande“ – doch sie polarisiert, stigmatisiert, diskriminiert und desillusioniert

Migrant*innen der ersten Generation waren häufig im Niedriglohnsektor tätig – oder haben Lücken in ihrem beruflichen Lebenslauf, was sich schließlich negativ auf ihre Altersrenten auswirkt.

In zahlreichen oberflächlichen Studien wird immer wieder die Einwanderung als Grund für die steigende Armutsrisikoquote genannt. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die vereinfachten Erklärungen der komplexen Realität nicht gerecht werden. 

Laut dem Ökonomen Marcel Fratzscher ist es „ein Mythos, dass Ungleichheit und Armut in Deutschland vor allem durch die Zuwanderung begründet sind. Ja, das Armutsrisiko in Deutschland nimmt zu, und eine Erklärung dafür ist in der Tat die zunehmende Migration. Viele der Menschen, die neu ins Land kommen, beziehen zuerst einmal geringe Löhne und Einkommen und sind relativ häufig von Armut bedroht. Aber dies ist eben nur eine Erklärung“, die keinesfalls pauschale Rückschlüsse auf den Zusammenhang zwischen Migration und Armut geben kann. Eine weitere Erklärung ist, dass viele Migrant*innen im Bau- und Gaststättengewerbe, in der Pflege oder im Dienstleistungssektor arbeiten – und unterbezahlt sind. Das heißt auch, sie arbeiten in Branchen, in denen seltener Menschen ohne Migrationserfahrung tätig sind. Diese gesellschaftlichen Schieflagen wurden während der Corona-Pandemie besonders deutlich.

Darüber hinaus wurden ausgerechnet Menschen aus diesen Berufsgruppen während der Corona-Lockdowns entlastet. In diesem Zusammenhang ist die Forderung der Gewerkschaften folgerichtig, dass ein dringender und enormer Handlungsbedarf in diesem Feld besteht. Auch wenn die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro ein wichtiger und richtiger aus unserer Sicht Schritt ist. Das allein reicht nicht: Es braucht einen langfristigen integrativen arbeitsrechtlichen Umbau, der die sozialen und arbeitsrechtlichen Bedarfe der Einwanderungsgesellschaft in den Blick nimmt – insbesondere die Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt.

Es ist auch ein Trugschluss, Armut nur am Einkommen oder an materiellen Ressourcen zu messen. Genauso gilt es zu berücksichtigen, in welchem Maße sich hierarchische Gesellschaftsstrukturen und Denkmuster auf soziale Teilhabe, Chancengleichheit und soziale Polarisierung auswirken. Bildung, Gesundheit sowie die Chancen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sind Ressourcen, die stark von den eigenen Privilegien beeinflusst werden. Häufig werden Menschen aufgrund ihrer fehlenden oder erschwerten Chancen und Möglichkeiten verurteilt.

Armut und die damit verbundene soziale und regionale Spaltung Deutschlands ist ein immer größer werdendes Problem. Das bestätigt auch der Bund-Länder-Vergleich: „Wenn in einem Bundesland jede*r zehnte und in dem anderen mehr als jede*r vierte Einwohner*in zu den Armen gezählt werden muss, hat dies mit gleichwertigen Lebensbedingungen in ganz Deutschland nichts mehr zu tun”, heißt es im Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.

Armut ist weder ein individuell verschuldetes noch ein zufälliges Problem. Vielmehr liegen der Armut gesellschaftliche Strukturen zugrunde, die es zu erkennen und zu überdenken gilt. Die Ergebnisse der Armutsforschung betrachten die „neuen“ Ausprägungen von Armut immer mehr als Folge von „Armut durch Wohlstand.“ 1

Es bedarf innovativer Umverteilungsformen, die den in der Bundesrepublik Deutschland vorhandenen Reichtum neu zuordnen. Deutschland ist aktuell weit von den Idealen der sozialen Marktwirtschaft entfernt. Derzeit haben wir mit dem großen Niedriglohn- und Teilzeitsektor und den gleichzeitig hohen steuerlichen Belastungen von geringen und mittleren Einkommen kein Steuersystem, das Arbeit belohnt. Die Schaffung von Strukturen gegen Diskriminierung und Ausgrenzung am Arbeitsplatz ist ein notwendiger Schritt, um unverschuldete soziale Ungleichheit und Armutsgefährdung entgegenzuwirken. Gleiches gilt für eine dringend erforderliche Stärkung des Bildungssystems.

Der Politologe Christoph Butterwegge warnt darüber hinaus vor den Folgen eines gefährlichen gesellschaftlichen Grundmechanismus, der soziale Ungleichheit nur an messbaren Merkmalen festmacht: „Es wäre auch falsch, alle gesellschaftlichen Probleme auf den Gegensatz von Arm und Reich zurückzuführen. Er ist aber das Kardinalproblem, und zwar der gesamten Menschheit. Der heutige Rassismus etwa ist ohne Kapitalismus und Kolonialismus nicht zu verstehen.“ Was Butterwegge schreibt, ist von fundamentaler Bedeutung. Deswegen ist es so wichtig, Ungleichbehandlung und die Ursachen sozialer Ausgrenzung wie etwa strukturellen Rassismus und Polarisierung in ihren vielfältigen Dimensionen zu erkennen – und sich diesen entschlossen und gezielt entgegenzustellen.
 

1 Alisch & Dangschat (1993: 21): Die solidarische Stadt: Ursachen von Armut und Strategien für einen sozialen Ausgleich

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