Bundesweit demonstrierten Menschen mit der Forderung, dass Rassismus und Polizeigewalt aufgeklärt und bestraft werden müssen. Bei einer Großdemonstration in Düsseldorf hieß es damals seitens der Veranstaltenden: „Mit unserer Demonstration wollen wir ein starkes Zeichen gegen Rassismus setzen in den USA, aber auch bei uns in Deutschland.“ Unzählige Flyer und Plakate waren im Umlauf, stets mit der gleichen Botschaft: „Nein zu Rassismus – Gemeinsam sind wir stark.“
Zwei Jahre später, am 8. August 2022, wird der 16-Jährige Mouhamed D. in der Dortmunder Nordstadt durch Schüsse der Polizei tödlich verletzt und stirbt. Die Reaktion: Bundesweite Empörung. Grund genug anzunehmen, dass das System Polizei in Deutschland in Frage zu stellen ist. Dabei ist Mouhamed D. kein Einzelfall:
Schweinfurt 2019: Rooble Warsame
Kleve 2018: Amad Ahmad
Fulda 2018: Matiullah Jabarkhil
Hamburg 2016: Yaya Jabbi
Berlin 2016: Hussam Fadl
Dortmund 2012: Ousman Sey
Frankfurt/Main 2011: Christy Schwundeck
Dortmund 2006: Dominique Kouamayo
Dessau 2005: Oury Jalloh
Bremen 2004/05: Laya-Alama Condé
Im September 2019 formierte sich das Bündnis „Death in Custody“ als Reaktion auf die vielen ungeklärten Todesfälle Schwarzer Menschen und People of Color in Gewahrsam. Schwarze Communities, migrantisch-diasporische Communities und Communities of Color verunsichern diese Vorfälle zutiefst. In den letzten 32 Jahren recherchierte das Bündnis 219 Todesfälle von Schwarzen Menschen, People of Color und von Rassismus getroffenen Personen in Gewahrsam und durch Polizeigewalt in Deutschland registriert (Stand: 15. Oktober 2022). Die bundesweite Chronik können Sie hier einsehen. Das Ausbleiben der Aufarbeitung all dieser Fälle und das Nicht-Zu-Rechenschaft-Ziehen der Täter*innen seitens Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft verschlimmern die Gewaltsamkeit der Vorfälle.
219 Todesfälle: Sehen Staat und Justiz hier keinen Grund zu handeln?
Der Appell von Dr. Elizabeth Beloe, Bundesvorsitzende Bundesverband Netzwerke von Migrant*innenorganisationen e. V. (NeMO), im Anschluss an die Podiumsdiskussion in Dortmund lautete nicht ohne Grund: „Wir müssen ernst nehmen, dass wir ein Problem im System haben. Sonst kommen wir nicht weiter.”
Aus lokaler Perspektive zum Thema „Umstrittene Polizeieinsätze, Rassismus und diskriminierende Vorfälle – die Menschen in der Dortmunder Nordstadt haben kein Vertrauen mehr zur Polizei. Wie kann sie das Vertrauen der Menschen wiedergewinnen?“ finden Sie einen Artikel bei tagger, dem journalistischen Magazin des Ruhrgebiets.
Aktuell finden die Perspektiven von Getroffenen und Selbstorganisationen im Diskurs, bei Behörden und bei Politik noch viel zu wenig Gehör. Es gibt viel zu wenige oder keine niedrigschwelligen Beratungs- und Beschwerdemöglichkeiten. Bei den Polizeibehörden existieren häufig keine zuständigen und geschulten Ansprechpersonen für Fälle von Diskriminierung. Damit entsteht unweigerlich der Eindruck, dass bei den Polizeibehörden geringer Wille an der (internen) Aufklärung rassistischer Taten besteht. Die Auswirkungen dieses Verhaltens sind verheerend: Rassistische und diskriminierende Fälle werden weniger oder gar nicht gemeldet, angezeigt, aufgeklärt und bestraft.
Racial Profiling ist zwar offiziell verboten, inoffiziell ist es aber faktisch Teil der Ausbildung und des täglichen Polizeihandelns. Racial Profiling hört auch nicht auf, wenn mehr migrantische Personen oder BIPoC bei der Polizei als Mitarbeitende tätig sind. Es geht an dieser Stelle nicht um Repräsentation von Gruppen. In unserer Migrationsgesellschaft brauchen wir hingegen vor allem mehr Gesetze, die den strukturellen Rassismus konsequent bekämpfen. Als Bundesverband NeMO geht es uns um die Abschaffung der einschränkenden gesetzlichen Rahmenbedingungen in Justiz und in der Polizei. Deshalb müssen strukturelle Rahmenbedingungen geschaffen werden, um Rassismus in der Polizei zu bekämpfen.
Ein erster Schritt zur Verbesserung der Lage wären Gesetzesänderungen, wie sie in Form des Landesantidiskriminierungsgesetzes in NRW bereits bestehen. Diese können einen gesetzlichen Rahmen für den Umgang mit Diskriminierung und Rassismus in Behörden und in der Polizei regeln. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Rassismus in der Polizei ein strukturelles Problem ist. Deshalb müssen insbesondere Praktiken wie Racial Profiling innerhalb der (polizeilichen) Behörden unbedingt hinterfragt, Denkmuster verlernt und nachhaltig geändert werden. Es bedarf einer diversitätsorientierten Organisations- und Personalentwicklung bei der Polizei, und zwar horizontal wie vertikal.
Der Journalist Mohamed Amjahid warnt in diesem Zusammenhang vor oberflächlichen Diversity-Strategien, die echten Veränderungswillen, Selbstreflexion und strukturellen Rassismus verschleiern. Denn, wir zitieren: Es kann gewiss kein Handlungsansatz sein „(…) einen nichtweißen Beamten in die erste Reihe [zu] stellen und dann kann das Thema Polizeigewalt wieder in der Schublade verschwinden. Das gesamte Interview zum Thema „Regenbogen über strukturellen Problemen“ finden Sie in der Novemberausgabe des IN MAGAZINS des Forums der Kulturen Stuttgart.
Um die internen Strukturen gezielt, objektiv aber auch kritisch zu hinterfragen, bedarf es darüber hinaus Schulungen, Workshops etc. für Polizist*innen und mit BIPoC Trainer*innen wie Referent*innen. Insbesondere die Unabhängigkeit von internen Strukturen stellt hierfür die unabdingbare Grundlage dar. Auch im Bereich der Wissenschaft besteht ein hoher Bedarf an unabhängiger Forschung zu Rassismus in Behörden sowie innerhalb der Polizei. Zugleich sind unabhängige Anlauf-, Beratungs- und Beschwerdestellen für Getroffene rassistischer Gewalt (in migrantischer Hand) erforderlich. Auch für Polizist*innen muss es Anlaufstellen geben, die solche Tendenzen und Aktionen melden wollen.
Der Bundesverband NeMO plädiert für ein Amt wie zum Beispieleine*n unabhängige*n Polizeibeauftragte*n.Darüber hinaus braucht es feste Ansprechpersonen für Beschwerden und Möglichkeiten zur Meldung diskriminierender Vorfälle bei den Polizeibehörden, die auch öffentlich einsehbar sind. Hierfür müsste es außerdem externe Ermittlungsbehörden geben, die Vorfälle innerhalb von Polizei und Behörden unabhängig aufklären.
Die Frage des Vertrauens in die Polizei ist von großer Bedeutung. Wir müssen weg vom Mythos „Einzelfall“ und hin zur Bekämpfung von strukturellem und institutionellem Rassismus. Es bedarf der strukturellen Implementierung einer diskriminierungsfreien Behörde. Der Polizeiberuf muss rassismuskritisch und diskriminierungsfrei für BIPoC und Menschen mit Einwanderungsgeschichte sein, um auch wirklich dem häufig zitierten Ideal der „Polizei als Abbild der Gesellschaft“ näher zu kommen.
Damit hört es nicht auf: Wir müssen zudem dringend weg vom Reproduzieren rassistischer Sprache und Klischees in der Polizeiausbildung, aber allem voran auch in der medialen Berichterstattung. Rassistisch geprägte „blinde Flecken“ und Tatmotive und die fehlenden Kontrollmechanismen innerhalb der Polizei müssen aufgearbeitet. Sie müssen als solche benannt und geahndet werden. Die Forderung nach unabhängigen Untersuchungsmechanismen für polizeiliches Handeln ist deshalb aktueller und dringlicher denn je. Bei Vorwürfen zu unrechtmäßiger Anwendung von Gewalt durch Sicherheitskräfte haben alle Menschen ein Recht auf unabhängige, unmittelbare und umfassende Untersuchungen. Nochmal: Es ist ein Menschenrecht! Es bedarf hierfür dringend Mechanismen, die unabhängig von den Innenbehörden agieren und mit ausreichenden Ermittlungsbefugnissen ausgestattet sind.
Unabhängige Beschwerdestellen können eine wichtige Anlaufstelle für Betroffene und ihre Angehörigen sein. Unabhängige Mechanismen können hier einen Teil dazu beitragen, um das notwendige Vertrauen in die Polizei wiederherzustellen. Die Mehrheit der Polizeibeamt*innen in Deutschland leistet gute Arbeit und ist darauf bedacht, sich rechtmäßig zu verhalten. Diese Beamt*innen werden in ihrer Arbeitsweise bestärkt, wenn Vorwürfe unabhängig untersucht, konsequent sanktioniert oder auch widerlegt werden.