Die aktuelle Lage in vielen Ausländerämtern ist dramatisch – und bekannt. Eine kleine Auswahl aus Pressemeldungen der letzten Zeit zeigt dies: Frankfurt: „Ausländerbehörde ist ein Ort des Schreckens“ (Frankfurter Rundschau vom 19.01.2023), Stuttgart: „Dramatische Zustände bei der Ausländerbehörde“ (SWR-Fernsehen vom 29.6.2023), „Warten auf die Berliner Ausländerbehörde: Zehntausend unbeantwortete E-Mails und kein einziger Termin im nächsten halben Jahr“ (rbb24 vom 07.07.2023), „Ärger über Darmstadts Ausländerbehörde weiterhin groß“ (Hessischer Rundfunk vom 27.07.2023) usw.
Viele Menschen sind für ihre Lebensplanung von Ausländerämtern abhängig
Zur Erklärung werden in der Regel Personalmangel, Überlastungen und hohe Krankheitsstände bei zugleich stark wachsenden Fallzahlen herangezogen. Dies hindert die Ausländerbehörden nicht daran, stumpfsinnige Stempelroutinen weiter zu praktizieren, die mit langen Wartezeiten verbunden sind und erhebliche Personalressourcen binden dürften, wie schon vor dreißig Jahren. Aber die Ursachen dieser Staus liegen viel tiefer – und die Folgen sind dramatisch – insbesondere für jene Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte, die von Entscheidungen der Ausländerbehörde abhängig sind. Denn: Nach dem Aufenthaltsgesetz sind Ausländerämter zuständig für aufenthalts- und passrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration und den ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen. z.B. im Chancen-Aufenthalts-Gesetz. Sie sind die erste Ansprechstelle für alle Fragen zu einem konkreten Einzelfall in diesen Feldern. Mit jedem einschlägigen Gesetz erweitern sich die Aufgaben der Behörde.
Ausländerbehörden sind für viele das hässliche Gesicht des deutschen Staates
Für Nicht-EU-Bürger*innen, die hier leben (wollen), ist die Ausländerbehörde das entscheidende Amt und damit ein überaus wichtiger Ort, an dem die ersten Erfahrungen mit dem deutschen Staat gemacht werden. Und diese Erfahrungen sind oft hässlich, bedrohlich und alles andere als eine Willkommenskultur! Das widerspricht unserem Verständnis von Deutschland als Einwanderungsgesellschaft, in dem Menschen, die zu uns kommen (wollen), korrekt, fair und würdevoll behandelt werden.
Es sind nicht nur die Warteschlangen vor den Toren der Behörde, die sich manchmal schon am frühen Morgen bilden, die Wartezeiten bis zu mehreren Monaten, bevor ein Termin zustande kommt, und die unbeantworteten E-Mails. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern löst bei den Betroffenen Ängste und Panik aus, weil die Entscheidungen der Behörde tief in ihr Leben eingreifen (können). Es ist oftmals auch der Umgang mit ihnen am Telefon oder dann, wenn ein Termin stattfindet.
Umbau zur Willkommensbehörde notwendig und überfällig
Aus unseren Mitgliedsvereinen wird schon seit Jahren Klage geführt über mangelnde Information, sprachliche Probleme, zu knappe Beratungszeiten, aber auch über Diskriminierung. Das hat offenbar nicht nur mit der Überlastung der Beschäftigten zu tun, sondern auch mit Organisationsfragen, überbordender Bürokratie (stundenlanges Warten um 5 Minuten vorzusprechen) und Grundsätzen zu Haltung und menschlichem Umgang. Das hier dringend etwas getan werden muss, hat z.B. das Land Niedersachsen erkannt und ein Handbuch „Vision Willkommensbehörde“ vorgelegt. Aber was die Umsetzung betrifft, so ist Papier – so befürchten wir – geduldig. Vor diesem Hintergrund kann nicht ausgeschlossen werden, dass etliche Bemühungen des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes verpuffen, wenn gleichzeitig Migration erschwert wird. Dabei verrät allein schon der Begriff „Ausländerbehörde“ ein Mindset aus anderen Zeiten.
Fachkräfte werden verschreckt
„Wie Magdeburg internationale Fachkräfte verschreckt“, titelt der Mitteldeutsche Rundfunk vom 25.September 2022 einen Bericht über die dortige Ausländerbehörde und weist damit auf den nicht nur Magdeburg betreffenden, sondern weit verbreiteten Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Fachkräftezuwanderung und dem realen Umgang mit jenen, die kommen (wollen), hin. Eine Kritik, die mittlerweile auch von vielen Firmen vorgetragen wird.
Empfehlungen und Forderungen
Vor diesem Hintergrund fordert der Bundesverband Netzwerke von Migrant*innenorganisationen (BV NeMO):
- Umgehend personelle Verstärkung der Ausländerämter und ihre bürokratische Entlastung.
- Zur aktuellen Entschärfung der Situation in den Ausländerämtern unterstützt der BV NeMO die Vorschläge, die ProAsyl bereits am 15. Februar 2023 vorgelegt hat:
(1) Reduzierung der Termine zur Verlängerung der Gültigkeit eines Aufenthaltstitels, mindestens auf sechs Monate, für bestimmte Personengruppen auch für eine längere Zeit. (2) Für Personen aus Ländern, in denen eine Passbeschaffung sehr schwierig bis unmöglich ist, sofortige Ausstellung eines Ausweisersatzes,
(3) Statt zusätzlicher Personalausstattung bei Rückführungsabteilungen verstärkter Personaleinsatz zur Sicherung des Fachkräftebedarfs, einschließlich gezielter Beratung beim Chancen-Aufenthaltsrecht und schließlich
(4) bessere Informationen in jeweiligen Sprachen zur effektiven Vorbereitung vereinbarter Termine.
- Es ist geboten, die Personen, die auf Termine und Entscheidungen der Ausländerbehörde angewiesen sind, über ämter- und kommunalinterne Beschwerdemöglichkeiten, vor allem aber auch über unabhängige Antidiskriminierungsstellen und Anti-Rassismus-Stellen in migantischer Trägerschaft zu informieren und ihnen zuzusichern, dass aus Kontaktaufnahmen keine Nachteile entstehen.
- Wir sind mit den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften einig, dass die Arbeitsbedingungen in den Ausländerämtern durchgreifend verbessert werden müssen. Aber auch die Kompetenzen, Haltungen und das Betriebsklima insgesamt müssen dem Umstand angemessen sein, dass hier jeden Tag über Schicksale von Menschen mitentschieden wird.
- Wir begrüßen ausdrücklich, dass eine ganze Reihe von Kommunen Maßnahmen auf den Weg gebracht haben, um die Situation in den Ausländerämtern zu entspannen. Zusätzliches Personal ist aber nicht ausreichend; es bedarf zudem einer Reorganisation der Ämter – nicht nur, aber auch: Digitalisierung - und einer Neuausrichtung ihrer Arbeitssysteme.
- Die demokratischen Migrant*innen-Organisationen bzw. Verbünde vor Ort sind nahe bei den Menschen, um die es geht, und sie verfügen über verschiedene wichtige Kompetenzen. Sie beratend aktuell und kontinuierlich einzubeziehen, ist nicht nur wünschenswert und sinnvoll, sondern im Sinne einer gut gestalteten Einwanderungsgesellschaft dringend geboten.
- Die Ausländerbehörden bedürfen bundesweit dringend einer neuen Ausrichtung. Eine erste Orientierung hierfür findet sich im Praxishandbuch des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. Sein Titel kann Programm sein: „Vision Willkommensbehörde – Stärkung der Serviceorientierung, der Mittlerfunktion sowie der Willkommenskultur von Ausländerbehörden“. Hier sind nicht nur die Länder (und Kommunen) herausgefordert, sondern insbesondere auch die Bundesregierung der „Ampel“, die mit ihrer Koalitionsvereinbarung im Wort ist. Aber: eine Reform der Ausländerbehörden und ihrer Aufgaben wird ohne eine Teilhabe demokratischer Migrant*innen-Organisationen nicht befriedigend gelingen.