An Arbeit fair und menschenwürdig teilhaben!

Positionierung des BV NeMO zur Politik der Fachkräftesicherung

Der drohende Fachkräftemangel ist in aller Munde. Eine neue Phase der Arbeitseinwanderung läuft. Neben dem demographischen Wandel, also der Überalterung unserer Gesellschaft, und den ökologisch-digitalen Transformationen wächst das Bewusstsein, dass sich die Wirtschaftskraft Deutschlands ohne Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland immer deutlich verschlechtern wird.

Erstens: Vorhandene Potenziale endlich nutzen
 

Bei nüchterner Betrachtung zeigt sich, dass viele der vorhandenen und entstehenden Fachkräftelücken hausgemacht sind. Ihre Gründe sind eine abwehrende Migrationspolitik anstelle einer Willkommenskultur über Jahrzehnte hinweg, schlechte Arbeitsbedingungen und unzureichende Bezahlung sowie die damit einhergehende mangelnde Ausschöpfung des vorhandenen Arbeitskräftepotenzials. Hierzu gehört auch die Krise des Bildungs- und Ausbildungssystems, die dazu führt, dass eine starke Minderheit von Jugendlichen ohne Abschluss die Schule verlässt und viele keinen Ausbildungsplatz erhalten, obwohl sie gerne eine Ausbildung wollen und Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben.

Diese krassen Unterschiede und Spaltungen treffen Menschen mit Einwanderungsgeschichte beim Zugang auf dem Arbeitsmarkt besonders stark. Kinder und Jugendliche aus Familien mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte sind von Benachteiligungen in Schule und Ausbildung besonders stark betroffen¹.

Die Corona-Krise hat öffentlich gemacht, wie hoch der Anteil von Arbeitnehmer*innen mit Einwanderungsgeschichte in zentralen Sektoren ist. Die Menschen kennen gleichwohl besonders harte Arbeitsbedingungen und werden im Niedriglohnsektoren beschäftigt, wie im Gesundheitsbereich, in der Altenpflege, der Stadtreinigung, im Verkehr und im Einzelhandel, zum Beispiel, mit Folgen wie gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Verlust an Lebenskraft usw.

Soziale Ungleichheit und die benachteiligte Lage vieler Menschen mit Einwanderungsgeschichte prägen unsere Arbeitswelt. Dies zu verändern, wäre ein wichtiger Beitrag auch zur Abmilderung des drohenden Arbeitskräftemangels. Menschen mit Einwanderungsgeschichte dürfen keine „Arbeitskräfte 2. Klasse“ sein.

Zweitens: Aus einem Duldungsstatus in ein reguläres Aufenthaltsrecht wechseln können
 

Viele Geflüchtete in Deutschland, die Schutz und Asyl suchen oder gesucht haben, wurden in der Vergangenheit vom legalen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Dies verhinderte ihre Chance, durch eigene Arbeit ein unabhängiges Leben zu führen. In jüngster Zeit wurden unter dem Aspekt des Arbeitskräftemangels einige Fortschritte erzielt. Beispielsweise wurde die Beschäftigungsduldung entfristet und die Wartezeiten für die Aufnahme einer Beschäftigung verkürzt.

Die Möglichkeit, über den sogenannten ChancenAufenthalt (gemäß § 104c Aufenthaltsgesetz) aus einem Duldungsstatus in einen regulären Aufenthaltstitel zu wechseln, existiert zwar, ist aber aufgrund hoher Anforderungen und strikter zeitlicher Beschränkungen nur für einen Teil der interessierten Personen nutzbar. Eine Anpassung dieser zeitlichen Rahmenbedingungen und die Bereitstellung adäquater Unterstützung sind dringend erforderlich.

Generell sollte der Zugang zum Arbeitsmarkt für alle, die aus humanitären Gründen nach Deutschland kommen und Asyl beantragen, erheblich vereinfacht werden. Dies sollte möglich sein, ohne das Risiko einer Änderung des Aufenthaltszwecks, also einen echten Wechsel der Aufenthaltsspur. Obwohl die neuen Gesetze zur Fachkräfteeinwanderung einige Möglichkeiten für einen Spurwechsel bieten, bleiben diese Optionen undurchsichtig und komplex. Es ist offensichtlich, dass der Wechsel aus einem Duldungsstatus heraus weiterhin auf erheblichen politischen Widerstand stößt, da befürchtet wird, dies könnte einen sogenannten „Pull-Effekt“ erzeugen und die Asylmigration verstärken.

Es ist notwendig, die Optionen für einen Spurwechsel zu erweitern, transparenter und praktikabler zu gestalten. Dies würde Menschen, die seit Jahren mit einem Duldungsstatus in Deutschland leben, eine sicherere Perspektive für ihren Aufenthalt bieten und somit die Voraussetzungen für ihre soziale Teilhabe schaffen, zum Vorteil für sie selbst, die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt.

Drittens: Ausländerämter zu Willkommenszentren machen!
 

Viele Menschen sind für ihre Lebensplanung von Ausländerämtern abhängig. Nach dem Aufenthaltsgesetz sind Ausländerämter zuständig für aufenthalts- und passrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration und den ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen, z.B. im Chancen-Aufenthalts-Gesetz. Sie sind die erste Ansprechstelle für alle Fragen zu einem konkreten Einzelfall in diesen Feldern. Mit jedem einschlägigen Gesetz erweitern sich die Aufgaben der Behörde.

Ausländerbehörden sind für viele das hässliche Gesicht des deutschen Staates. Für Nicht-EU-Bürger*innen, die hier leben (wollen), ist die Ausländerbehörde das entscheidende Amt und damit ein überaus wichtiger Ort, an dem die ersten Erfahrungen mit dem deutschen Staat gemacht werden. Und diese Erfahrungen sind oft hässlich, bedrohlich und alles andere als eine Willkommenskultur! Das widerspricht unserem Verständnis von Deutschland als Einwanderungsgesellschaft, in dem Menschen, die zu uns kommen (wollen), korrekt, fair und würdevoll behandelt werden. Aus unseren Mitgliedsvereinen wird schon seit Jahren darüber Klage geführt.

Die Ausländerbehörden bedürfen bundesweit dringend einer neuen Ausrichtung². Ein Umbau zur Willkommensbehörde ist notwendig und überfällig. Hier sind nicht nur die Länder (und Kommunen) herausgefordert, sondern insbesondere auch die Bundesregierung der „Ampel“, die mit ihrer Koalitionsvereinbarung im Wort ist. Aber: eine Reform der Ausländerbehörden und ihrer Aufgaben wird ohne eine Teilhabe demokratischer Migrant*innen-Organisationen nicht befriedigend gelingen.

Viertens: Erwerbseinwanderung umfassend fair gestalten!
 

Ab 18.November 2023 tritt stufenweise das neue Fachkräfte-Einwanderungsgesetz in Kraft. Neben der Einführung einer neuen Chancenkarte ist es vor allem der weitgehende Verzicht auf den bisher erforderlichen Nachweis der Gleichwertigkeit von im Ausland erworbenen Qualifikationen, der die Anwerbung von Arbeitskräften erleichtern soll. Damit wird die Erwerbseinwanderung weit über das Fachkräftesegment hinaus geöffnet. Sowohl von Seiten der Bundes- als auch von Landesregierungen sind Delegationen in verschiedenen Ländern unterwegs, die für die Aufnahme einer Beschäftigung in Deutschland werben. Unternehmen wie auch private Vermittler haben sich ebenfalls auf den Weg gemacht, um eine Beschäftigungseinwanderung auf Zeit in Gang zu setzen.

Das alles sieht nach einer Art Wiederholung der „Gastarbeiter-“ und „Vertragsarbeiter-“– Anwerbung der Vergangenheit aus. Da kennen wir uns aus, aus eigenem Erleben oder aus den Erfahrungen der Generation unserer Großeltern und Eltern. Die Menschen, die damals kamen – ob Männer oder auch viele Frauen – mündeten in schwere und belastende Arbeitsbedingungen ein, bei niedrigem Verdienst und großer sozialer Isolierung. Die gewünschte rasche Rückkehr in die erste Heimat erwies sich als Illusion. Negative Langzeitfolgen bis heute sind verbreitete Altersarmut, aber auch anhaltende Benachteiligungen, die zum Teil heute noch Kinder und Enkel betreffen.

Was wir aus der Geschichte der Arbeitseinwanderung lernen, ist: So nicht noch einmal! Bei der neuen Arbeitseinwanderung muss sichergestellt sein, dass sie nicht in prekäre Arbeitsverhältnisse mündet³. Wir stimmen dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zu, wenn er erklärt: „Entscheidend für eine faire Gestaltung von Erwerbsmigration ist, dass sie zu einheitlichen und tarifvertraglich abgesicherten Regeln erfolgt“⁴. Außerdem muss das Anwerbegeschäft reguliert und kontrolliert werden.

Internationale Solidarität und Globale Verantwortung verbieten es, dass Fachkräfte dort abgeworben werden, wo sie in den Herkunftsländern dringend gebraucht werden. Hier müssen Lösungen gefunden werden, die solche neokolonialen Effekte vermeidet.

Bei den bisherigen Anwerbeaktivitäten steht die sogenannte „Vorintegration“ im Zentrum, ein Unwort, denn Integration kann es nur geben, wenn man angekommen ist. Gemeint sind damit Vorbereitungen, vor allem beim Erwerb der deutschen Sprache. Demgegenüber wird bisher vernachlässigt, dass es sich beim Ankommen um einen komplexen und komplizierten Prozess handelt, der auch mit Rückschlägen verbunden sein kann. Was beim Übergang nach Deutschland und danach schief geht, wird in der globalisierten medialen Welt, in der wir leben, natürlich kommuniziert, und wird seine Rückwirkungen auf die Attraktivität Deutschlands für Fachkräfte haben. Rassismus und Diskriminierung sind dabei wichtige negative Größen, aber nicht die einzigen.

Es geht deshalb auch darum zu vermitteln, dass es in Deutschland selbst Begleiter*innen und Unterstützer*innen im Ankommens- und Normalisierungsprozess des neuen Lebens gibt, die Vertrauen verdienen. Hier kommen u.a. demokratische Migrant*innen-Organisationen ins Spiel. Da die lokal-kommunale Ebene besonders wichtig ist, können z.B. lokale Verbünde von Migrant*innen-Organisationen wichtige Partner sein.

¹ Vergl. u.a. BV NeMO: 10 Punkte für die ersten 100 Tage: Forderungen, die bleiben!

² Vergl. hierzu: BV NeMO: Unwürdige Zustände in den Ausländerämtern. Stellungnahme vom 08.03.2023

³ Vergl. hierzu u.a. Sachverständigenrat für Integration und Migration: Neue Risiken prekärer Beschäftigung? SVR- Kurzinformation 2023-6

⁴ DGB: Inländisches Arbeitskräftepotenzial ausschöpfen, faire Fachkräfteeinwanderung sichern. – DGB-Anforderungen in der Fachkräftedebatte, DGB arbeitsmarktaktuell Nr.4/November 2022

Die Positionierung downloaden.