Positionierung: Menschenwürde verteidigen, Demokratie stärken!

Einwanderungsgesellschaft Deutschland, im Herbst 2024: Eine kritische Bestandsaufnahme.

Turbulente Zeiten, viele Krisen
Wir leben in turbulenten Zeiten. Seit einigen Jahren überlagern sich verschiedene gesellschaftliche Krisen. Die Corona-Krise zeigte wie eine tiefe Sonde die bestehende und sich verschärfende soziale Ungleichheit, insbesondere bei Bildung und Gesundheit. Die durch den Überfall auf die Ukraine ausgelöste Energiekrise offenbarte das wachsende Ausmaß von Armut. Die Klimakrise zeigt sich durch immer extremere Wetterlagen, die wiederum jene besonders treffen, die sich nicht ausreichend schützen können, aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage, belastenden Arbeitsbedingungen und problematischer Wohnverhältnisse. Es gibt bedrohliche politische Pläne, angesichts der angespannten Lagen der Öffentlichen Haushalte bei Sozialleistungen zu „sparen“, also jenen noch wenige zu lassen, die ohnehin wenig zum Leben haben. Also sind auch die mit diesen tiefgreifenden Veränderungen der Lebensumstände verbundenen Risiken ungleich verteilt. 

Menschenwürde ist unteilbar
75 Jahre Grundgesetz. 1949: Nach zwölf Jahren mörderischem Faschismus wird in Artikel 1 formuliert: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Nach den Erfahrungen, dass die Würde des Menschen mit Füßen getreten werden kann, ist dies nun der zentrale Verfassungsauftrag: dass die Würde des Menschen stets gesichert sei. Seit 1989 – nun schon seit 35 Jahren - gilt dies für das vereinigte Deutschland.

Ein würdevolles Leben: ohne Not, ohne Diskriminierung und Rassismus, selbstbestimmt, sozial anerkannt und in Demokratie und Freiheit. Menschenwürde ist unteilbar. Menschenrechte sind die Garantie und Ausbuchstabierung der Menschenwürde.  Die sozialen Verwerfungen nehmen zu; viele Menschen haben Sorge, wie es ihnen und ihren Kindern in Zukunft gehen wird; die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft sich – und damit wachsen auch die Bedrohungen für die Demokratie. Wie steht es also um die Würde des Menschen in Deutschland im Herbst 2024?

Einwanderungsgesellschaft im Rückwärtsgang?
In Deutschland hat fast ein Viertel der Menschen selbst oder durch ihre Familien eine Migrationsgeschichte. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Der Zustand des Einwanderungslands Deutschland muss sich deshalb am zentralen Verfassungsauftrag der Würde messen lassen.  

Die Ausbreitung rechtsextremer Positionen und die aggressiven Angriffe auf alle, denen „Fremdheit“ zugeschrieben wird und autoritäre und demokratiefeindliche Positionen, die auch in migrantischen Communities zu finden sind, beunruhigt uns sehr. Eine kritische Bestandsaufnahme ist dringend nötig. 

Die Koalitionsvertrag für die „Ampel“-Regierung vom November 2021 machte eine gewisse Hoffnung darauf, dass mit einer positiven Gestaltung von Einwanderungsgesellschaft und der Sicherung einer menschenwürdigen Asylpolitik Ernst gemacht wird. Tatsächlich aber führte der rechtspopulistische Druck zu einer restriktiven Wende in der Migrationspolitik statt einer offensiven Verteidigung einer offenen, vielfältigen und Menschen in Not zugewandten Politik. Das Scheitern der „Ampel“ lässt befürchten, dass dieser restriktive Weg weiterverfolgt und verstärkt wird. 

Deutschland ist auch für viele eine Hoffnung, weil es ein demokratisches Land ist
Viele Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht und nehmen dabei große, manchmal tödliche Gefahren auf sich. Niemand flieht ohne Not aus ihrer oder seiner Heimat. In Deutschland steigt die Zahl derjenigen, die Schutz, Asyl und eine neue Lebensperspektive suchen. Und auch, wenn wir Vieles am Zustand der hiesigen Gesellschaft auszusetzen haben: Sie kommen auch hierher, weil  Deutschland ein demokratisches Land ist, in dem die Grundrechte geschützt werden, was in vielen Herkunftsländern nicht der Fall ist. 
Als die rechtsradikalen Gedankenspiele zu Remigration Anfang des Jahres bekannt wurden, gingen Hunderttausende aus Protest auf die Straße: schlagartig wurde vielen bewusst, wie wertvoll es ist, in einer Demokratie zu leben, die ihren Namen verdient. 

Migration: das neue, alte Feindbild
Angesichts der Vielzahl von Krisen, die die Gesellschaft zu bestehen hat, wird nun gerade die Migration erneut zum Störenfried Numero 1 gemacht, die sogar die Demokratie gefährde, weil sie rechtspopulistischen Kräften in die Hand spiele. Ein Muster, das aus vergangenen Krisen schon bekannt ist. Jenseits aller Fakten: so wird unterstellt, dass Personen, die „illegal“ einreisen, weil es keine „legalen“ Wege gibt, dies tun, um sich unrechtmäßig Vorteile zu verschaffen. Aber von ihnen wird bei über 70 Prozent ein berechtigter Asylantrags- oder Duldungsgrund festgestellt – damit ist die Rede von „illegaler Migration“ ist diskreditierendes Unwort. Egal: es müssen „Schuldige“ gefunden werden. 

Panikmache spaltet, Nüchternheit hilft
Nachbarschaften und Kolleg*innenkreise sind vielfältig und man kommt in der Regel gut miteinander aus. Die schlechte und zuweilen auch feindliche Stimmung kommt also wohl kaum aus der „Mitte der Gesellschaft“, sie kommt aus der Politik. Angetrieben von den Rechtsradikalen und Rechtspopulisten gleichen sich die schrillen und panikmachenden Töne auch im Regierungslager und zum Teil auch von den Kommunen immer mehr an das, was notwendig gewesen wäre: die nüchterne, auf Fakten basierende Zurückweisung der populistischen Stimmungsmache, unterblieb. Was nötig gewesen wäre: die explizite Anerkennung der unverzichtbaren Beiträge der hier lebenden und noch ankommenden Menschen mit Einwanderungsgeschichte für dieses Land: unterblieb. So wird gesellschaftliche Spaltung nicht verhindert. 

Zusammenhalt: ein hohes Gut für heute und morgen
Zusammenhalt in offenen und demokratischen Gesellschaften beruht auf der ruhigen und nüchternen wechselseitigen Anerkennung des Rechts auf Vielfalt bei gleichzeitiger Achtung und Verteidigung einer zivilgesellschaftlichen Übereinkunft der Grundnormen des Zusammenlebens. Und in deren Zentrum steht das, was im ersten Artikel des Grundgesetzes zum Ausdruck gebracht wird: Die Würde des Menschen ist unantastbar. 

Demokratische Migrant*innen-Organisationen leisten einen unverzichtbaren Beitrag
Was kann der gefährlichen Stimmungs- und Panikmache entgegengesetzt werden: genau das, nämlich: Demokratie aktiv leben! Demokratische Migrant*innen-Organisationen leisten hierzu seit vielen Jahren einen wichtigen Beitrag, ohne großes Aufheben davon zu machen. Sie tun es einfach und oftmals auch mit einem Engagement, das an den Rand der Kraft geht: sich wechselseitig unterstützen, lokal für Verständigung und gute Nachbarschaft werben, neu Angekommene auf ihrem Weg in das neue Leben begleiten, sich in Initiativen und Integrationsräten engagieren und damit aktiv eintreten für eine vielfältige, respektvolle, solidarische und diskriminierungsfreie Gesellschaft, in der alle gut leben können. 

Der Bundesverband Netzwerke von Migrant*innen-Organisationen (BV NeMO) ist ein Zusammenschluss von lokalen herkunfts- und kulturübergreifenden Verbünden. Mit seinen 800 Mitgliedsvereinen ist er nahe bei den Menschen, teilt mit ihnen vielfältige Erfahrungen sozialer Ungleichheit, von Zurücksetzung und Diskriminierung, aber auch vielfältiger positiver Entwicklungen, und engagiert sich praktisch für eine gute Gestaltung unserer Einwanderungsgesellschaft. 

Was tun?
Verbünde von Migrant*innen-Organisationen, in denen viele Vereine unterschiedlicher Herkunft demokratisch, respektvoll, mit klarer Trennlinie zu Hass und Gewalt zusammenwirken, sind ein demokratisches Basismodell mit Ausstrahlungskraft.

Angesichts der aktuellen turbulenten Verhältnisse mit ihren Gefährdungen werden die demokratischen Migrant*innen-Organisationen ihr Engagement verstärken müssen und der BV NeMO wird dies mit seinen Verbünden tun. Menschen mit Migrationsgeschichte müssen stärker mobilisieren, gemeinsam für Demokratie und Menschenwürde einzutreten, demokratische Migrant*innenorganisationen müssen sich stärker als bisher für lokale und überlokale Bündnisse mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren öffnen, eine alternative Berichterstattung unter stärker Nutzung von Social Media muss den Vorurteilen und „fakes“ entgegengesetzt werden. 

Ohne das tägliche Engagement der vielen Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte stünde es schlecht um unsere Gesellschaft.

Positionierung downloaden