In unserer 1. Positionierung zur Corona-Krise am 8. April 2020 warnen wir: „Es besteht die Gefahr einer Verschärfung sozialer Benachteiligungen, aber auch eines verstärkten Rassismus in der Krise und als Folgen der Krise. Wenn dies geschieht, werden Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte davon erheblich betroffen sein“. Als eine der Gruppen mit besonderen sozialen Risiken nannten wir Kinder, denen die Schule fehlt, um mithalten zu können. Wir haben leider erleben müssen, dass dies über mehrere Wochen nur am Rande zum Thema wurde.
Nun sind wir vier Wochen ohne Schule und KiTa weiter und mit den ersten Schritten aus dem Shutdown wird immer deutlicher: Für Erzieherin*innen, Lehrer*innen und für alle Kinder und Jugendlichen ist es eine Herausforderung, in den alten, aber in verschiedener Hinsicht wie z.B. durch Klassenteilungen, Abstandsregeln und Nachholstoff immer noch außerordentlichen Bildungsalltag, zurückzufinden.
Einer großen Gruppe von ihnen, die zu den Bildungsbenachteiligten in unserer Gesellschaft zählen, droht aber ein gravierender Bildungsrückschlag, und dies ist umso stärker, je länger der normalisierte KiTa- und Schulbetrieb auf sich warten lässt, und sei dies auch aus guten Gründen der Abwehr gesundheitlicher Risiken.
Zu dieser Gruppe, der eine Fortsetzung und Vertiefung ihrer Bildungsbenachteiligung mit Langfristfolgen droht, gehören viele Kinder und Jugendliche aus Familien mit Einwanderungs- oder Fluchtgeschichte: nicht weil sie „bildungsfern“ sind, sondern weil sich ihre Lebensbedingungen wie z.B. Einkommensschwäche oder sogar Armut, kleine Wohnungen, eine Familiensprache, die nicht Deutsch ist, erschwerend auswirken. Gerade sie brauchen die öffentliche Bildung, und zwar in guten KiTas und guten Schulen, die auf die Förderung jeder und jedes Einzelnen orientiert sind.
Manche Expert*innen befürchten, dass die lange häusliche Isolierung insbesondere von KiTa-Kindern zu nicht wieder aufholbaren Bildungsdefiziten führt. Dies und Bildungsrückschläge bei Schülerinnen und Schülern wollen und werden wir nicht hinnehmen. Wir fordern ein Sofortprogramm, das schon in diesem Sommer wirksam wird.
Was sind die Bausteine für ein solches Sofortprogramm? Das MigrantenElternNetzwerk Niedersachsen hat sich in einem Brief mit Forderungen an den dortigen Kultusminister gewandt, die wir unterstützen:
- so rasch wie möglich in den KiTas und Schulen Lernangebote gezielt für Kinder eröffnen, deren Familiensprache ausschließlich nicht Deutsch ist bzw. deren Eltern zuhause nicht die notwendigen Lernbedingungen schaffen konnten;
- Konzepte und Umsetzungspläne jetzt entwickeln und bereithalten, um Schülerinnen und Schüler darin zu unterstützen, das Versäumte zügig und ohne Verluste aufzuholen;
- KiTa-Kinder und Schüler*innen, zu denen während des Shutdowns bisher kein Kontakt hergestellt werden konnte, aufzusuchen und sie und ihre Eltern beraten und unterstützen.
Aktuell und für die Zukunft bleibt wichtig:
- Kindern, deren Eltern dies nicht leisten können, Laptops zur Verfügung zu stellen. Die Stadt Wien hat dies z.B. schnell und unbürokratisch getan.
Immer, wenn es um grundlegende Lebensinteressen der Menschen geht, sind die Kommunen gefordert. Viele Städte und Kreise engagieren sich deshalb schon seit Jahren bei der hochwertigen Gestaltung der lokalen Bildungslandschaften. Jetzt – in diesem Sommer – geht es um eine rasche und gemeinschaftliche Notfallaktion der kommunalen Bildungsakteure. Dies ist ein zentraler Baustein des von uns geforderten Sofortprogramms. Worum geht es?
- Kommunal muss ein Aktionsprogramm verabredet und umgesetzt werden, das die aus der Corona-Krise resultierenden Bildungsbenachteiligungen auffängt;
- Hierfür ist das übliche Zuständigkeitsdenken zugunsten gemeinschaftlicher Verantwortung zu überwinden; was in Fragen der gesundheitlichen Risikobekämpfung möglich war und ist, muss auch hier gelingen;
- Die in vielen Städten und Kreisen vorhandenen Kommunalen Koordinierungsstellen für Bildung (Kommunales Bildungsmanagement) müssen prioritär das erforderliche Zusammenspiel der verschiedenen Einrichtungen und Akteure sichern;
- Die Migrant*innenorganisationen, ihre Nähe zu den Menschen und die fachlichen Kompetenzen ihrer Projekte wie z.B. samo.fa, sind für diese Gemeinschaftsaktion unverzichtbar;
- Als ein Baustein eines solchen lokalen Aktionsprogramms soll – auch aufgrund des Umstands, dass für viele Familien Urlaubsreisen in diesem Jahr nicht möglich sind – ein bunter und attraktiver Sommer der Bildung und Lebensfreudevorbereitet und durchgeführt werden, der vor allem auch jene anspricht, denen Bildungsrückschläge drohen;
Die Corona-Krise bringt die Kommunen in eine bedrohliche Haushaltslage. Daraus folgt, dass
- Das von uns geforderte Sofortprogramm einschließlich seiner lokalen Verankerung über den Bund und die Länder – und möglichst auch unter Beteiligung von Stiftungen – finanziert werden muss.
Gerade jetzt, wo Schritte aus der Corona-Krise hinaus und die Entwicklung umfassenderer Strategien für die Zeit „nach Corona“ auf der Tagesordnung stehen, geht es darum, in welcher Gesellschaft wir in Zukunft leben (wollen). Teilhabe von Migrant*innenorganisationen ist in einer Einwanderungsgesellschaft, wie es Deutschland ist, unverzichtbar. Deshalb wiederholen wir mit Nachdruck, was schon in unserer ersten Positionierung gefordert wurde:
- Auf kommunaler Ebene ist neben dem Krisenmanagement unter gesundheitlichen und ordnungspolitischen Aspekten ein Steuerungs- und Beratungsgremium zur Bekämpfung sozialer Risiken und verschärfter sozialer Ungleichheit erforderlich, an dem Migrant*innenorganisationen zu beteiligen sind;
- Wie auf der lokalen Ebene muss auch auf Landes- und Bundesebene das Feld der „sozialen Risiken“ stärker ins Zentrum gerückt werden; hierzu sind dringend Beratungs- und Beteiligungsformen unter Einbeziehung von Migrant*innenorganisationen zu entwickeln.
Der Vorstand des Bundesverbandes NeMO e.V.
Berlin und Dortmund, 8. Mai 2020